001

260 32 17
                                    

Elle,

Dass du diese Zeilen liest, heißt, dass ich schon weg bin, und vielleicht ist das auch besser so. Du weißt, ich bin kein Mann der großen Worte. Ich wusste noch nie, wie ich mit dir sprechen soll. Es tut mir leid. Ich bin kein guter Vater. Das weiß ich nur zu gut. Ich möchte mich nicht rechtfertigen, aber ich werde es trotzdem machen: Jedes Mal, wenn ich dich ansehe, sehe ich Julia. Anfangs war es am schlimmsten. Ich habe es kaum ausgehalten. Am liebsten wäre ich jedes Mal in Tränen ausgebrochen. Selbstverständlich hat sich das mit der Zeit gebessert, aber bis heute ist es nicht verschwunden. Das ist dir gegenüber nicht fair, aber ich kann es einfach nicht. Julia, sie hätte es gekonnt. Sie wäre eine wunderbare Mutter gewesen! Wenn sie doch nur gewusst hätte, dass es euch gab. Sie wollte immer eine Familie haben. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.

Bitte verzeihe mir meine Unfähigkeit und auch wenn du das vielleicht nicht glauben kannst, ich mache das auch für dich. Ich bin mir sicher, dass du im Internat gut aufgehoben bist. Du wirst mehr Zeit mit Gleichaltrigen verbringen und vielleicht vermögen sie dir zu helfen, so wie ich es nicht konnte.

Schreib mir bitte, sobald du angekommen bist,

Christoph

Nachdem ich die Zeilen ein weiteres Mal gelesen hatte, packte ich den Brief wieder in meinen Rucksack. Er hatte heute Morgen gemeinsam mit dem Geld für das Taxi in der Küche gelegen. Christoph war ein netter Mann, aber er war nicht bereit für eine Familie gewesen. Erst recht nicht, nachdem seine Frau verstorben war. Es war nett von ihm gewesen, dass er mich bei sich behielt. Der Papierkram war noch nicht vollständig abgeschlossen. Aber er hatte mich bei sich aufgenommen, für sie. Für Julia. Sie war so aufgeregt gewesen, als sie von meiner Existenz erfuhr. Glücklich sogar. Sie wollte immer eine Familie haben, aber ihr Glück, war mein Verderben. Ich hatte alles verloren, während sie mich gewann. Sie hatte nicht gewusst, dass sie noch Familie hatte, aber das hatte sie. Sie hatte uns und nach dem Unfall, war es für sie selbstverständlich, dass ich bei ihr und Christoph einziehen sollte. Wer hätte ahnen können, dass sie nur wenige Wochen später selbst das zeitliche segnen würde?

Mein Blick war aus dem Busfenster gerichtet, meine Knie angewinkelt und meine Arme darum geschlungen. Draußen ließen wir Bäume und Felder hinter uns. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Haus, nichts außer Natur.

Drei Jahre. Das klang gar nicht so lang, aber wenn man betrachtete, wie sich mein Leben in diesen drei Jahren verändert hatte, schien es sich um eine Ewigkeit zu handeln. Vor drei Jahren war ich glücklich gewesen, hatte Eltern und einen Bruder.

Jetzt war ich allein. Ich hatte niemanden mehr. Allein die Erinnerung brachte mich fast zu weinen. Es schmerzte viel zu sehr. Mein Herz zog sich zusammen, meine Finger wurden taub und kribbelten zur selben Zeit.

Ich atmete tief durch die Nase ein und langsam und vollständig aus dem geöffneten Mund wieder aus. Mit geschlossenen Augen lauschte ich auf das Hämmern meines Herzens und wartete bis es sich wieder beruhigte. Erst dann schlug ich meine Augen wieder auf.

Genau in diesem Moment, hörte ich das unverwechselbare Klicken einer Kamera. Erschrocken drehte ich mich zur Seite. Ein Junge, wohl ungefähr in meinem Alter, mit braunen gelockten Haaren hielt seine Kamera auf mich gerichtet. Er nahm sie runter und die hinter seiner Brille versteckten braunen Augen lächelten mich an.

Diese Fähigkeit hatte ich bisher noch nicht bei vielen Menschen gesehen. Allein mit den Augen zu lächeln, kannte ich eigentlich nur von meinem Bruder, doch dieser fremde Kerl schien das auch zu können. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, aber ich versuchte mir nichts davon anmerken zu lassen.

„Tut mir leid, dich erschreckt zu haben. Wenn du willst, lösche ich das Foto auch wieder, aber ich konnte nicht anders! So ein Motiv konnte ich mir nicht entgehen lassen."

Ich zuckte mit den Schultern und wendete mich erneut der vorbeihuschenden Landschaft zu, doch zu meiner Überraschung, ging er nicht weg. Im Gegenteil, er setzte sich auf den freien Platz mir gegenüber. Skeptisch schaute ich ihn an. Falls ihn das irritierte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen streckte er mir die Hand entgegen und stellte sich vor: „Ich bin Oli. Du bist neu hier, oder?"

Ich nickte und reichte ihm meine Hand. „Elle."

Sein Lächeln wurde breiter. Für mich war die Situation einfach nur unbehaglich. Smalltalk war nie eine meiner Stärken gewesen, also schwieg ich und löste das Haargummi von meinen hüftlangen Haaren, um meine Hände zu beschäftigen.

„Es ist schön dort. Wirklich! Die meisten Neuen glauben das nicht, aber du kannst mir glauben. Du wirst dich wie zuhause fühlen!"

Das bezweifelte ich stark, aber ich widersprach ihm nicht. Was hätte das auch für einen Zweck? Das einzige, was passieren könnte, wäre, dass er nachbohren würde und darauf hatte ich keinerlei Lust.

„Wenn du willst, kann ich dich später rumführen. Der Schröder wird dir vermutlich erst dein Zimmer und die wichtigsten Orte zeigen, aber danach kann ich dir noch eine Tour geben. Quasi aus der Sicht der Schüler. Die sind meist besser als die von den Lehrern!" Er lachte auf und strahlte mich noch immer an. Bei anderen Menschen würde ich glauben, es sei nur vorgespielt, aber das Strahlen seiner Augen konnte man nicht spielen. Er war wirklich so. Es machte ihm Freude, anderen zu helfen.

Erneut zucke ich mit den Schultern: „Mal sehen." Ich hatte keine Lust mich jetzt auf Sachen festzulegen. Wahrscheinlich würde ich erst einmal meine Ruhe haben wollen. Ich war es nicht mehr gewohnt Menschen um mich zu haben. Aber das müsste ich schnell lernen. Ich würde eine Mitbewohnerin haben. Sehr viel Zeit allein, würde mir also nicht bleiben. 

Greatest Love but Greatest FearDonde viven las historias. Descúbrelo ahora