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Ich wusste nicht wie viel Zeit verstrichen war, aber irgendwann realisierte ich, dass ich nicht allein war. Natürlich war ich es nicht. Robin hatte den Raum nie verlassen, sondern nur Kim. Er war hiergeblieben und wie es schien, hatte er seine Hände auf meine Schultern gelegt und sich über mich gelehnt.

Er bot mir Halt und er schwieg.

Er versuchte nicht etwas aus mir herauszubekommen. Er fragte nicht, was los sei. Er bot mir nur Halt.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Meine Atmung hatte sich wieder etwas normalisiert und auch das Zittern hatte nachgelassen, wobei ich nicht wusste, ob das Zittern nur durch seinen Körper verhindert wurde. Mein Hals schien noch immer zugeschnürt zu sein, aber selbst die Bilder in meinem Kopf waren in den Hintergrund gerückt. Sie waren nicht weg, das waren sie nie, aber sie waren auch nicht mehr das einzige, woran ich denken konnte.

Als würde eher bemerken, dass es mir besserging, reduzierte er die Kraft mit der ich mich hielt, ohne aber sich ganz zu lösen. Er gab mir nur etwas mehr Freiraum. Wenn ich wollte, könnte ich ihn jetzt ohne Probleme abschütteln.

Doch wollte ich das? Ich wusste es nicht. Eigentlich wusste ich gar nichts.

Was sollte ich jetzt tun? Hier sitzen bleiben, bis er weg ging? Mich von ihm lösen? Schweigen? Etwas sagen?

Wie sollte ich ihm erklären, was gerade geschehen war? Wie würde ich es Kim erklären können?

Würde sie nun böse sein, weil ich gesagt hatte, dass ich nicht mit ihr trainieren würde? Wusste sie überhaupt, dass ich so zusammengebrochen war? Ich hatte mich noch recht unter Kontrolle gehabt, während sie im Raum gewesen war, oder nicht? Hatte sie etwas gemerkt? Aber selbst, wenn nicht, Robin hatte es auf jeden Fall gemerkt. Daran bestand keinerlei Zweifel. Er war hier. Hatte alles gesehen. Er würde es ihr erzählen, aber vor allem würde er wissen wollen, was geschehen war. Warum ich so reagiert hatte. Was mit mir los sei. Was ich für ein Problem hatte.

Es war lange her gewesen, dass meine Schutzmauer so sehr eingebrochen war. Ich hatte weinen müssen, hatte das Gefühl nicht atmen zu können, das ja, aber nichts mehr von außen mitzubekommen? Mich komplett von der Außenwelt abzuschneiden? Noch dazu mit Zeugen?

Das war lange nicht mehr geschehen.

Es war irgendwie alles auf mich draufgefallen. Der wenige Schlaf, die Alpträume, Robin, Kims Gerede über die EOCYSC, ihre Bitte mit ihr in ein Schwimmbad zu gehen.

Es war zu viel gewesen. Das hatte ich nicht ausgehalten.

Aber was sollte ich jetzt tun? Was konnte ich jetzt tun? Welche Möglichkeiten hatte ich?

Die erste Frage war: blieb ich so sitzen oder sollte ich mich aufrichten?

Ich sollte mich bewegen, aber meine Muskeln regten sich nicht und eine Stimme in meinem Kopf wies mich darauf hin, dass ich mir erst überlegen musste, was danach geschehen sollte. Bis ich nicht wusste, was ich als nächstes tun sollte, würde es mehr Sinn machen sitzen zu bleiben.

Zweitens, wenn ich mich dann aufgerichtet hatte, was dann? Schweigen oder etwas sagen?

Ich wollte nichts sagen, aber wenn es schwieg, würde Robin auf jeden Fall nachfragen. Ich müsste also etwas sagen, das Gespräch lenken...

Was mich gleich zur dritten Frage führte: Was sollte ich sagen?

Ich könnte die Wahrheit sagen und alles erklären. Nein, konnte ich nicht. Selbst, wenn ich es gewollt hätte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich die Worte aussprechen könnte. Das fiel also raus. Was dann? Mir irgendeine Geschichte ausdenken? Meine Fantasie reichte nicht aus, um eine plausible Lüge zu erdenken, die nicht weitere Fragen aufwerfen würde. Auch das könnte ich also vergessen. Ich konnte also weder die Wahrheit sagen, noch lügen. Na toll. Großartig. Das Einzige, was übrig blieb war also zu sagen, dass ich nicht darüber sprechen wollte. Weil das bisher immer so gut funktioniert hatte. Dieses Mal war noch nicht einmal Oli da, der unsere Freunde bremsten konnte. Er wäre der Einzige, dem ich zutraute, das als Antwort zu akzeptieren. Ich würde es also machen müssen, wie immer. Sagen, dass ich nicht darüber sprechen wollte, mir anhören müssen, dass ich es doch erzählen sollte und solange wiederholen, dass ich nicht darauf antworten werde, dass sie aufgaben, zumindest bis sie nach einiger Zeit, doch wieder auf das Thema kamen.

Immerhin würden bald die Weihnachtsferien anfangen. Vielleicht würde es in der Zeit in Vergessenheit geraten? Nicht einmal ich selbst glaubte daran.

Frage Nummer Vier: Was machte ich dann?

Abhauen. Verschwinden. Weggehen. Das war ganz klar. Ich konnte nicht hierbleiben. Ich musste jetzt allein sein. Ich brauchte Ruhe. Ich würde meinen Mantel nehmen und raus gehen. Zum See. Die Kälte würde mir guttun und dann würde ich erst zurück auf das Zimmer kommen, wenn alle schon schliefen. Morgen würde ich mich dann Kim stellen. Was ich da machen würde, müsste ich mir später auch noch überlegen.

Okay, das war also der Plan: Aufstehen, sagen, dass ich nicht darüber sprechen würde, meine Wintersachen nehmen und allein zum See gehen.

Gut. Ich atmete einmal tief durch und schüttelte Robin dann von mir ab. Ich sprang auf und während ich schon meinen Mantel und den Schal ergriff, sagte ich, mit viel schwächerer Stimme, als ich beabsichtigt hatte: „Ich will nicht darüber reden."

Damit wendete ich mich zur Tür, blieb aber abrupt stehen, als Robin antwortete: „Okay."

„Was?"

„Ich sagte, okay.", wiederholte er. „Du willst du nicht darüber sprechen. Okay."

Einige Sekunden starrte ich ihn einfach nur an, völlig ungläubig, doch bevor er es sich anders überlegen konnte, lief ich aus dem Zimmer zum See. 

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt