095

77 16 9
                                    

Mein Blick war seit einiger Zeit stur auf den Schlüssel in meiner Hand gerichtet. Robin und ich standen vor der Tür zu meinem ehemaligen Haus, aber ich war noch nicht bereit die Tür aufzuschließen. Mental nicht, aber auch körperlich würde es nicht so einfach gehen. Dafür zitterten meine Finger viel zu sehr.

Mein Herz schlug wild gegen die Brust und wenn ich es langsam nicht gewöhnt gewesen wäre, hätte ich mir sorgen gemacht, dass es meine Rippen aufbrechen und sich nach Außen durchschlagen könnte.

Es klang etwas weit hergeholt, aber so fühlte es sich tatsächlich an.

Es verstrichen weitere Minuten und ich wusste, dass ich das Haus endlich betreten müsste, wenn das heute noch etwas werden sollte. Ich war bereit. Zumindest so bereit, wie ich eben sein konnte. Was eigentlich hieß, dass ich alles andere als bereit war, aber auch, dass ich wusste, dass es nicht besser werden würde, selbst wenn ich hier noch drei volle Tage stehen würde.

Seufzend drehte ich mich zu Robin um und hielt ihm den Schlüssel hin.

Mit einem fragenden Blick sah er mich an, doch als ich nickte, nahm er ihn und trat an die Tür. Er musste ein bisschen ruckeln, um den Schlüssel in das Schloss zu stecken, doch es dauerte nur wenige Sekunden, bis er den Schlüssel drehte und die Tür einen Spalt breit öffnete. Dann trat er beiseite.

Damit war es wohl wieder an mir. Ich schloss die Augen und rieb mir kurz über das Gesicht, bevor ich meine Hand auf die Tür legte. Nach einem tiefen Atemzug stieß ich sie auf. Ein weiterer Atemzug und ich öffnete die Augen, ließ meinen Blick allerdings auf den Boden gerichtet.

Nur ein Schritt lag zwischen mir und dem Haus. Mit nur einem Schritt würde ich die Schwelle übertreten. Mehrmals atmete ich durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, doch dann hob ich meinen rechten Fuß und setzte ihn nach vorne. Dann den Linken.

Ich stand im Haus. Damit hatte ich schon einen großen Schritt gemacht. Zumindest im übertragenen Sinne. Ein bisschen wie Neil Armstrong damals sagte: „Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit." Nur war ich in diesem Fall sowohl der Mensch als auch die Menschheit. Vielleicht funktionierte der Vergleich doch nicht so gut.

Möglicherweise konnte ich aber auch gerade nicht klar denken. Wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein, aber seitdem ich im Haus war, hatte ich das Gefühl, dass mir ein vertrauter Geruch in die Nase stieg. Der Geruch nach Zuhause. Doch war das überhaupt möglich? Konnte es hier drinnen wirklich noch so riechen? Nach vier Jahren? Kam der Geruch doch nicht von den Menschen, die im Inneren lebten?

Wie wackelig ich auf den Beinen war, bemerkte ich erst, als ich den Boden mit meinen Knien berührte. Sie hätten wohl einfach unter mir nachgegeben, sodass ich schmerzhaft auf den Boden gestürzt wäre, wenn Robin nicht da gewesen wäre. Er hatte wohl gesehen, dass ich stürzte und hatte mich gepackt, um mich langsam nach unten sinken zu lassen.

Ich hatte nicht mitbekommen, dass er sich ebenfalls auf den Boden gesetzt hatte, aber nach einer Weile realisierte ich, dass er gegen die Wand gelehnt dasaß und mich im Arm hielt. Ich überlegte zu fragen, wie lange wir schon hier waren, entschied mich aber dagegen. Ich wusste nicht einmal welche Antwort mir gefallen würde. Stattdessen schloss ich für einen tiefen Atemzug die Augen und stand auf. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, öffnete ich die Tür zum Wohnzimmer.

Es war nicht unbedingt das, was ich erwartet hatte zu sehen. Ich wusste nicht, wie ernst es Achim gewesen war, als er behauptet hatte, dass sie alles haben stehen lassen, wie es war, aber darum ging es nicht. Alle Möbel waren zugedeckt. Wenn ich diese weißen Tücher über den Möbeln gesehen hatte in Filmen, hatte ich mich immer gefragt, ob die Menschen das wirklich taten. Scheinbar war es so.

Ich versuchte nicht zu viel darüber nachzudenken, denn das würde es nur noch schwerer machen und griff nach einem der Tücher.

Staub wirbelte auf, aber das war mir egal. Meine Augen hätten auch ohne den Staub gebrannt. Zum Vorschein war ein Regal gekommen, auf dem neben dutzenden Büchern auch einige gerahmte Fotos standen. Sanft strich mit den Fingern über einen der Rahmen. „Dieses Foto habe ich geliebt."

Robin trat hinter mich und schaute mir über die Schulter. „Bist das du?"

„Ja," Auf dem Foto stand ich in einem rot-weiß kariertem Kleid, einem breiten schwarzen Gürtel, naja eigentlich war es einfach nur ein Stück Stoff und natürlich einem roten Umhang. Mein Bruder hingegen steckte in einem flauschigen Wolfskostüm. Es war seine Idee gewesen, uns gemeinsam zu verkleiden. Manche aus seiner Klasse hatten sich darüber lustig gemacht und meine Eltern waren auch überrascht gewesen, dass er sich mit elf Jahren noch gemeinsam mit der kleinen Schwester verkleiden wollte, aber er und ich waren schon immer unzertrennlich gewesen. Es war ihm egal gewesen, was die anderen dachten oder über ihn sagten. Er wollte mich an seiner Seite haben. „das bin ich und der Wolf, das ist Manu."

„Das habe ich mir schon fast gedacht." Er lächelte mich an. „Du hast dich offensichtlich verändert, aber wenn man genau hinsieht, dann kann man dich schon erkennen."

„Findest du?"

„Aber ja doch!" Er zeigte auf ein anderes Foto, „Ist das deine Mutter?"

Ich nickte und zeigte noch auf ein anderes. „Und das ist mein Vater."

„Du kommst mehr nach ihm."

„Das haben schon immer alle gesagt. Ich käme nach meinem Vater und Manu nach unserer Mutter."

„Trotzdem seht ihr euch ziemlich ähnlich. Also du und Manu, meine ich."

„Ach ja?"

„Aber total!"

„Trotzdem dachtest du er wäre mein fester Freund."

„Was? Wann?"

„Wir hatten schon dem Wettbewerb über meinen Bruder geredet. Während der Party. Ich hatte mir gerade ein Foto von ihm angeschaut, als du kamst und du hast, wieder einmal, voreilige Schlüsse gezogen und mich, ebenfalls wieder einmal, beschuldigt, dass ich euch nicht erzählt habe, dass ich einen Freund habe."

„Wirklich jetzt? Oh, man, sorry. Das tut mir euch leid!"

„Alles gut, ich fands nur witzig, dass du jetzt meinst, dass wir uns so ähnlich sehen und du dir damals zehn Versionen ausgedacht hast, warum ich weine, wenn ich an meinem Freund oder Ex-Freund oder Schwarm denke, du aber nicht mal auf die Idee gekommen bist, dass er vielleicht jemand ganz anderes sein könnte."

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt