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„Ich hatte es komplett vergessen." Ich lehne mich gegen die Wand. „Wie kann es nur sein, dass ich nicht mehr daran gedacht habe?"

Robin musterte mich mit schief gelegtem Kopf.

„Jedes Jahr an Silvester bat mein Vater uns alle ihm etwas zu geben, was uns an das vergangene Jahr erinnert. Er wollte eine Zeitkapsel für uns errichten. Er sagte immer, sobald ich 18 sei, würde er uns eine Karte geben, die uns zum Schatz führt."

„Das ist ja unglaublich... wow."

Ich nickte. „Es gab Phasen da fanden wir das echt nervig, aber es ist eine so schöne Idee gewesen. In dieser Kiste liegen so viele Erinnerungen. Erinnerungen an unsere Kindheit."

In der großen Kiste lagen mehrere kleinere Pappschachteln drin auf denen jeweils eine Nummer stand.

Nach einigen Suchen fand ich Kiste Nummer eins. Meine Hände zitterten, aber es gelang mir den Deckel zu heben. Oben lag ein Zettel, den ich zögerlich auffaltete und mit brüchiger Stimme vorlas:

„Lieber Manuel,

Als deine Mama und ich erfahren haben, dass sie schwanger ist, wurden wir zu den glücklichsten Menschen der Welt. Dachten wir zumindest, aber es stellte sich heraus, dass wir sogar noch glücklicher wurden als wir dich zum ersten Mal sahen.

Auch wenn du erst wenige Wochen bei uns bist und du zugebenermaßen ziemlich schlafraubend bist, bist du perfekt. Wir lieben dich und wir freuen uns so sehr dich aufwachsen zu sehen.

Wir freuen uns darauf zu sehen, wie du dein erstes Wort sagst, deine ersten Schritte gehst, dein erstes Hobby findest, deine ersten Freunde kennenlernst, auf deinen ersten Schultag, auf deinen letzten Schultag, auf den Tag an dem wir die Person kennenlernen mit der du dein Leben verbringen möchtest. Wir freuen uns darauf zu sehen, wie du Vater wirst, falls du das möchtest. Wir freuen uns darauf zu sehen, wie du eine Arbeit findest, die dir gefällt.

Wir freuen uns auf jede Minute, die wir bei dir sein werden. Wir freuen uns darauf jeden Tag ein Teil deiner Reise zur die Selbst zu sein.

Momentan sind wir noch zu dritt, aber wer weiß, vielleicht kommt noch jemand dazu und vergrößert unsere Familie. Wer weiß, wie viele wir sind, wenn wir diese Zeilen das nächste Mal lesen.

Aber da wir noch nicht wissen, ob es in Zukunft ein weiteres Mitglied der Familie geben wird, können wir auch noch nicht sagen in wie vielen Jahren du diesen Brief zu Gesicht bekommst.

Die Idee ist und wird sie auch bleiben, dass ich dir oder euch die Karte geben, damit ihr die Zeitkapsel, den Schatz finden könnt. Dass ihr dies hier lest, bedeutet wohl, dass ihr erfolgreich wart.

Ich bin stolz auf euch!

Wir gerne würde ich heute wissen, wie viele Jahre verstreichen werden, denn der Tag an dem ich euch die Karte überreichen wollte, ist der an dem das jüngste unserer Kinder seinen 18. Geburtstag feiert.

Eine beängstigende Vorstellung. Noch bist du so klein, mein lieber Junge. Der Gedanke, dass du bereits ein erwachsener Mann bist, wenn du diese Zeilen liest... Ganz abgesehen davon, wie alt ich dann sein werde. Puh, denken wir lieber nicht darüber nach und ihr dürft mit der kleinen Reise durch die Zeit beginnen.

Wir lieben dich

Dein Papa und deine Mama"

Ich wischte mir die Tränen weg, bevor sie auf den Brief tropften, und ließ mich von Robin in seine Arme ziehen. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, während er mir über den Rücken strich.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder von ihm löste, trotzdem ließ er mich nicht los und ich war ihm sehr dankbar dafür.

„Das Foto kenne ich.", flüsterte ich und beachtete die glücklichen Gesichter meiner Eltern, die auf Manu hinablächelten. „Das war am Tag seiner Geburt."

„Sie scheinen sehr glücklich gewesen zu sein."

„Sie wollten Großeltern werden." Meine Lippe bebte als ich die winzige Socke aus dem Karton nahm. „Sie hatten nicht die Möglichkeit das zu erleben."

„Das wichtigste war ihnen, dass ihr glücklich seid, und das haben sie gesehen."

„Manu war glücklich, aber jetzt ist er tot." Ich holte den letzten Gegenstand raus, bevor er sich gezwungen fühlte etwas zu sagen. Es gab nichts, was man darauf erwidern konnte.

Es war ein Ultraschallfoto.

„Das könnte das erste Foto überhaupt von ihm sein." Ich schluchzte. „Beim seinem letzten Foto stand ich neben ihm..."

Nach und nach öffnete ich die nächsten Kisten und bald waren auch Erinnerungen an meine Kindheit dabei. Anfangs schmerzte jede Erinnerung. Sie erinnerten mich daran, dass sie keiner weiteren erschaffen und vergraben konnten. Sie konnten keine weiteren Eintrittskarten kaufen, keine Bücher mehr lesen, keine Urlaube mehr machen, sie konnten nicht mehr befördert werden, keine schicken Restaurants besuchen, sie konnten einander keine Blumen mehr verschenken, sie konnten keine neuen Klavierstücke einüben. Doch mit der Zeit stellte ich fest, dass ein Teil von mir sich auch über diese Erinnerungen freute. Zeigten sie nicht, wie viel Spaß jeder von uns damals gehabt hatte.

Sie hatten ein glückliches Leben gehabt. Ein Leben, dass viel zu früh zuende war, doch zumindest hatten sie ein schönes Leben gehabt. War das nicht viel wichtiger?

Es war besser ein kurzes Leben voller schöner Momente zu haben, als ein langes Leben voller Trauer, Schmerz und Leid.

Erstaunlich war für mich aber auch die Erkenntnis, dass nicht nur meine Familie keine dieser Erinnerungen mehr erschaffen konnte, sondern auch ich nicht. Jedes Erinnerungsstück, das ich meinem Vater für die Kapsel gegeben hatte, war entweder eine Erinnerung an einen Moment mit Manu oder hatte etwas mit dem Schwimmen zu tun. Da waren meine letzten Schwimmflügel drin, mein Seepferdchen-Abzeichen, meine Schwimmbrille, die während des Wettkampfes gerissen war, Urkunden für den ersten Platz, eine Stoppuhr als Erinnerung für das Training und meine Verbesserungen.

Welche Erinnerungen hätte ich in den letzten Jahren aufbewahren wollen? Woran hätte ich mich gerne Jahre später wieder erinnert? Welcher Moment bedeutete mir genug? Welcher Tag war schön genug gewesen?
Die traurige Wahrheit war, dass mir nichts einfiel. Zumindest nicht für die ersten drei Jahre nach dem Unfall. Ich wusste aber ganz genau, was ich für das letzte Jahr gewählt hätte. Es wäre ein Foto gewesen.

Ein Foto von Robin, Kimmi, Oli und mir. Wobei ich mich wahrscheinlich nicht an die Regeln gehalten hätte und noch ein zweites Foto abgegeben hätte. Ein Foto mit Adrian. Diese vier Menschen hatten mein Leben in den vergangenen Monaten so sehr bereichert. Sie hatten mich daran erinnert, dass ich trotzdem glücklich sein durfte. 

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt