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Ich hatte meine Arme um die Beine geschlungen und meinen Kopf auf den Knien abgestützt, während mein Blick auf das Wasser vor mir gerichtet war.

„Ich... Es fühlte sich so an als hätte ich Manu zweimal verloren... Damals als wir weggezogen sind... Es war wohl mit der schwersten Entscheidung für uns beide, die wir jemals getroffen haben. Wir wollten uns nicht trennen, aber wir waren so jung. Ich wusste nicht, wie lange wir dort sein würden und klar hätte ich spätestens direkt nach dem Schulabschluss zurückkommen können, aber zwei Jahre sind eine lange Zeit. Vor allem in dem Alter. Ich wollte ihm nicht im Weg stehen und Manu wollte mir nicht im Weg stehen. Wir hatten Angst, dass wir etwas nicht taten oder verpassten, weil wir auf den anderen warten, obwohl wir die Pause vielleicht gar nicht überstanden hätten... Ich bereue es jetzt so sehr. Es gibt keine Entscheidung in meinem Leben, die ich so sehr bereue wie diese..."

Auch wenn es mir schwerfiel, hob ich meinen Kopf, um sie anzusehen. Meine Augen brannten und ich wusste, dass nicht viel fehlte, bis die Tränen kamen. „Er auch."

„Was?"

„Manu hat diese Entscheidung auch bereut... Er hat sich dafür gehasst, dass er dich hat gehen lassen."

„Wieso hat er nichts gesagt?"

„Weil er dachte, dass es das ist, was du willst. Ihr hattet diese Entscheidung getroffen und er wollte nicht, dass du dich gezwungen fühlst, etwas anderes zu tun. Er wollte immer nur, dass du glücklich bist."

„Dieser Idiot! Sorry."

Grinsend zuckte ich mit den Schultern.

„Wir sind uns so ähnlich gewesen. Kannst du dir vorstellen, wie oft ich diese Zeilen geschrieben habe, nur um sie dann wieder zu löschen? Ich wollte ihn nicht zu nötigen. Ich wollte nicht, dass er eine Fernbeziehung führen musste, nur weil ich das Gefühl hatte nicht ohne ihn sein zu können..." Sie griff sich in die Haare. „Ich hab ihn geliebt."

„Und er dich." Bei den meisten Menschen in unserem Alter, die behaupten sich zu lieben, glaubte ich das nicht. Die meisten Menschen, die behaupteten zu lieben, hatten doch keine Ahnung was Liebe wirklich war. Ich wusste doch selbst nicht, was romantische Liebe war. Familiäre Liebe ja, aber romantische? Nope. In jemanden verliebt zu sein und jemanden zu lieben waren zwei vollkommen verschiedene Dinge. Nichtsdestotrotz glaubte ich, dass Lisa und Manu sich geliebt haben. Sie waren perfekt füreinander gewesen.

„Als Papa uns dann eröffnet hat, dass wir zurückkommen... ich war so aufgeregt gewesen. Ich wollte Manu überraschen. Ich bin gar nicht nachhause. Ich bin aus dem Taxi gestiegen und hab mich sofort auf dem Weg zu euch gemacht. Ich habe geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht... Natürlich nicht. Also rief ich an, aber es nahm keiner ab. Ich hab mich dann hingesetzt vor eure Tür und hab gewartet. Ich bemerkte die mitleidigen Blicke, die mir die Leute zuwarfen, wenn sie vorbeiliefen, erst nach einer Weile. Die Zeit verstrich und irgendwann kam euer Nachbar, wie hieß er noch? Naja, ist ja auch egal. Er hat sein Beileid ausgedrückt. Kannst du dir vorstellen, wie verwirrt ich war? Ich wusste eifnach nicht, was er meinte. Also fragte ich ihn..."

„Scheiße."

„Jap... So habe ich von dem Unfall erfahren... Manu würde nicht nachhause kommen. Du auch nicht. Keiner von euch. Ich hab dich angerufen. So oft, aber du bist nicht dran gegangen. Ich wusste, dass du den Unfall überlebt hattest, aber sonst wusste ich nichts. Ich wusste nicht, was mit dir passiert ist. Wo du warst. Wie es dir ging. Du warst wie vom Erdboden verschluckt."

„Es tut mir leid."

„Das muss es nicht."

„Doch natürlich."

„Ja, vielleicht." Sie grinste mich an. „Aber ich verstehe es. Jetzt verstehe ich. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass du nicht- also, klar, ich wünsche mir natürlich, dass nichts davon je geschehen wäre, aber ich habe mir gewünscht, dass du da gewesen wäre und... ich hätte es lieber von dir erfahren."

Ich rückte näher an sie und zog sie in eine Umarmung. „Es tut mir so leid."

„Wirklich, ich verstehe es. Ich hab das nicht erzählt, damit es dir schlecht geht. Ich wollte dir keine Schuldgefühle einreden..."

„Alles gut. Du hast recht. Ich komm klar. Mach nur weiter."

„Ich bin eigentlich am Ende." Sie seufzte. „Als wir umgezogen sind, habe ich ihn verloren, dann dachte ich, dass ich ihn zurückbekommen könnte, nur um zu erfahren, dass ich ihn schon wieder verloren hatte, doch diesmal ohne Rückweg..."

Ich wischte mir einige Tränen aus dem Gesicht.

„Danke, dass du mir zugehört hast. Du hattest recht. Genau das habe ich gebraucht."

„Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat."

„Du hattest eben andere Bedürfnisse als ich und das ist auch okay. Du hattest es viel schlimmer als ich. Ich sollte mich nicht beschweren."

„Tu das nicht."

„Was soll ich nicht tun?"

„Deinen Schmerz relativieren. Jeder Schmerz ist echt. Meine Bedürfnisse waren nicht wichtiger als deine. Ich habe Fehler gemacht, auch wenn ich denke, dass es das war, was ich gebraucht habe."

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now