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Entgegen meiner Erwartung stand Christoph, an sein Auto gelehnt, vor dem Bahnhof.

Er lächelte mir zu, als er mich erblickte und ich erwiderte die Begrüßung mit einem Nicken. Ich war mir unsicher, was ich davon halten sollte. Ich hatte damit gerechnet den Bus zu nehmen und somit noch mindestens eine halbe Stunde allein zu sein, um mich mental darauf vorbereiten zu können. Sicher hätte mir Christoph auch das Geld für ein Taxi gegeben, aber ich hatte gar nicht so schnell an dem Haus sein wollen. Auch wenn ich einige Stunden Fahrt hinter mir hatte, war die Anspannung, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatte, nicht verschwunden. Ich hatte die Sorgen noch nicht abschütteln können. Es war so seltsam gewesen und zu der Angst, dass meine Freunde Antworten verlangen würden, hatte sich mit jedem Tag, der verstrich, ohne dass das geschah, eine weitere Angst beigemischt. Die Angst, dass unsere Freundschaft dadurch kaputt gegangen war. Das war vielleicht etwas drastisch formuliert, aber dass meine Verschlossenheit einen Knacks in unsere Freundschaft hinterlassen könnte, wäre durchaus möglich. Es könnte doch sein, dass sie das als Vertrauensbruch ansahen, obwohl es nicht war, oder doch? Es war ja nicht so, dass ich ihnen nicht vertraute. Da lag nicht das Problem. Das Problem lag bei mir. Ich konnte noch immer nicht darüber sprechen.

Es gab Nächte, da hatte ich wach im Bett gelegen und mit mir gehadert, warum ich es nicht einfach sagen konnte. In mir drinnen hatte ein Kampf gewütet, ob ich Kim nicht einfach auf der Stelle wecken sollte und ihr alles erzählen. Ihr erklären, was geschehen war. Ihr von meiner Familie erzählen und über den Grund, weswegen ich Wasser hasste, obwohl ich es eigentlich über alles liebte. Ihr über den Unfall berichten.

Ich hatte es nie getan. Es war immer nur ein Gedanken geblieben. Ich hatte mich nicht getraut. Ich hatte die Worte nicht über die Lippen bringen können.

Vielleicht war es gut ein paar Tagen von ihnen getrennt zu sein. Oder aber die Tage der Trennung würden endgültig zum Beenden unserer Freundschaft führen.

Beides könnte durchaus geschehen und dieser Gedanke hatte mich auf der ganzen Fahrt über nicht losgelassen.

Was auch dazu führte, dass ich nicht bereit war zu dem Haus zu fahren, dass ich als zuhause betrachten sollte. Die Person zu treffen, die meine Familie sein sollte. Weswegen ich nur sehr langsam auf Christoph zuging.

Wie sollte ich mich verhalten? Was sollte ich sagen? Was würde er tun? Was erwartete er?

Seit ich erfahren hatte, dass er scheinbar viel mehr für mich machte, als ich gedacht hatte, hatte mich der Gedanke ihn wieder zu treffen verunsichert. Ich hatte ihm Unrecht getan, die ganze Zeit über.

Es war für mich da gewesen, aber ich hatte es nicht gesehen.

Ich hatte immer akzeptiert, dass wir kaum miteinander sprachen, aber jetzt? Jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich vielleicht einen Schritt auf ihn zu machen musste. Andererseits war es eventuell ja auch gar nicht, dass was er wollte. Dass er eigentlich nie Kinder hatte haben wollen, stimmte schließlich trotzdem und im Brief als ich aufs Internat ging, hatte er auch zugegeben, dass es ihm schwerfiel mich anzusehen, ohne an Julia zu denken.

Was also, wenn ich auf ihn zuging und ihn damit quasi dazu nötigte mehr Zeit mit mir zu verbringen, obwohl er das gar nicht wollte? Dass ich es tat, um ihm einen Gefallen zu tun, obwohl er überhaupt kein Interesse daran hatte? Denn ob ich das wollte, wusste ich auch nicht.

Es hatte sich gut angefühlt zu wissen, dass er die ganze Zeit dagewesen war, aber ich war gut damit zurechtgekommen ihm nicht so nah zu sein. Ich hatte die Zeit allein gewollt.

Doch wollte ich das immer noch? Ich hatte mich in den vergangenen Monaten verändert. Meine Freunde hatten mich verändert. Allein die Tatsache, dass ich wieder Freunde hatte, bewies es.

Ich stand nun vor dem Auto, murmelte ein „Hallo." und wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Hallo Elena."

Er öffnete den Kofferraum und ich warf meine Reisetasche hinein.

„Ist das alles?", fragte er mit gerunzelter Stirn.

„Ja." Ich zuckte mit den Schultern und schaute auf die Tasche. Sie war nicht sehr groß, aber es reichte auf jeden Fall aus. Was erwartete er denn? Dass ich mich drei Koffern ankam? So viele hatte ich ja nicht einmal mit ins Internat gebracht. „Es sind doch nur zwei Wochen."

„Ja, natürlich." Er kratzte sich am Hinterkopf. Mir schien es, als würde er noch etwas sagen wollen, aber er schwieg.

Um den unangenehmen Moment zu durchbrechen, schlug ich den Kofferraum zu und setzte mich nach Vorne auf den Beifahrersitz.

Er stieg ebenfalls ein und fuhr los.

Die Stille im Auto war unerträglich, ich traute mich aber auch nicht das Radio anzustellen, deswegen räusperte ich mich und fragte: „Musst du heute nicht arbeiten?"

„Nein."

„Oh." Na super, was ein tolles Gespräch. Worüber sollte ich mit ihm sprechen? „Wie geht es dir?"

„Gut und dir?"

„Auch." Das hatte ja wunderbar geklappt. „Ähm... Meine Mitbewohnerin meinte ich solle dich grüßen." Es war nicht gelogen. Zumindest nicht wirklich. Kim hatte gesagt, ich solle zuhause Grüße ausrichten. Sie meinte damit meine Eltern, aber eigentlich tat ich genau das, was sie gesagt hatte.

„Oh. Wie nett. Versteht ihr euch gut?"

„Ja... Ja." Was war nur los mit mir? Wenn keiner mehr als ein paar Silben sagte, konnte kein Gespräch zustande kommen. „Ja, Kim ist echt super... Ich... Hatte Glück. Es ist nicht selbstverständlich eine nette Mitbewohnerin zu haben, aber wir verstehen uns wirklich gut."

„Das ist toll."

„M-mh... Ja, sie, ihr Freund, Oli, und... Robin... ähm... Kims Bruder... Wir verbringen viel Zeit zusammen."

„Schön." Drei Atemzüge der Stille verstrichen. „Schön, dass du Freunde gefunden hast."

„Ja..." Stille. Eins, zwei, drei, vier. „Apropos Freunde... Herr Schröder lässt dir auch Grüße ausrichten."

„David, ach den hab ich lang nicht mehr gesehen. Wie geht es dem guten, alten Knaben?"

„Äh... Gut? Ich weiß nicht. Ich denke es geht ihm gut, aber ist jetzt nicht so, dass ich viel mit ihm gesprochen hätte... Er ist mein Schulleiter..."

„Natürlich, ja, klar. Tut mir leid."

„Das muss dir nicht leid tun."

„Ja..." Und wieder Stille. Dieses Mal aber hielt sie an bis er die Einfahrt zum Haus hochfuhr.

Das versprachen zwei sehr spaßige Wochen zu werden... 

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt