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„Zwingst du mich bitte am Ende der Straße nach links abzubiegen?", fragte ich mit zitternder Stimme.

Bei diesem Klang zog mich Robin etwas fester an sich. „Was ist da links?"

„Die Beethovenstraße.", antwortete ich schlicht.

„In Ordnung..."

Schmunzelnd schaute ich zu ihm nach oben. „Ich weiß es zu schätzen, dass du nicht nachfragst, aber in diesem Fall ist das schon in Ordnung. Wenn ich es nicht einmal aussprechen kann, wie soll ich es dann dahin schaffen."

Er wartete kurz, hakte dann aber doch nach: „Okay und was ist nun in der Beethovenstraße?"

„Da steht das Haus... Das Haus in dem ich früher mit meiner Familie gelebt habe."

„Oh.", murmelte er, nickte aber. In seinem Blick lag allerdings keine Überraschung. Vielleicht hatte er es schon geahnt.

„Also tust du es?"

„Tue ich was?"

„Mich zwingen dort abzubiegen." Ich zeigte an das Ende der Straße. „Bitte."

„Denkst du nicht, dass du das selbst entscheiden solltest?"

„Ich denke, dass ich es früher oder später selbst schaffen würde, aber es schneller geht, wenn du mich zwingst. Ich mache hier nur winzige Schritte und die Ferien sind auch nicht unendlich lang. Ich weiß nicht, ob ich es nochmal schaffen würde nach Hofond zu fahren. Vor allem nicht... nicht ohne dich..."

„Ich bin hier." Er drückte mich noch etwas fester. „Ich weiß, dass du das kannst, aber sei dir sicher, dass ich auch in den nächsten Ferien hier sein werde, wenn es das ist, was du brauchst."

„Das weiß ich zu schätzen, aber ich fühle mich schon schlecht genug, dass ich dir diese Ferien ruiniere-"

„Du ruinierst meine Ferien nicht.", unterbrach er mich.

Ich verdrehte die Augen. „Ja, ja. Also kannst du mich zwingen?"

„Was stellst du dir darunter vor?"

„Ich befürchte, dass ich stehen bleiben werde, bevor wir die Straße betreten haben. Von dir möchte ich einfach, dass du weiterläufst und mich mitnimmst. Es geht mir nur um die ersten Schritte."

„Wenn es das ist, was du willst, dann werde ich es tun."

„Danke." Mittlerweile waren wir schon an der Kreuzung angekommen. Mein Kopf war kurz vorm Platzen, während sich meine Innereien zusammenzuziehen schienen, sodass ein Vakuum meinen Bauch füllte. Meine Kehle war trocken und mein Atem kam zitternd.

Ich spürte, wie meine Beine sich weigern wollten weiter zu laufen, aber Robin setzte den Weg fort. Nicht ohne mir einen besorgten Blick zuzuwerfen, aber er tat es.

Und dann hatte ich es geschafft. Ich hatte die Beethovenstraße betreten. Ich war da. Ich war auf der Straße meiner Kindheit. Allerdings war es eine sehr lange Straße und das Haus, in dem ich gelebt hatte, war auf der gänzlich anderen Seite. Es reichte aber schon, um nicht weitergehen zu wollen.

Früher waren Manu und ich mit dem Fahrrad hin und her gefahren. Wir haten Wettrennen veranstaltet. Manu war immer schneller gewesen als ich. Das hatte sich auch mit den Jahren nie geändert. Im trockenen war er immer vor mir am Ziel angekommen. Dafür siegte ich jedes Mal im Wasser. Ab und zu jedoch, als wir beide noch sehr klein war, hatte er mich gewinnen lassen.

Ich war damals so stolz gewesen ihn besiegt zu haben, aber umso trauriger und auch wütender war ich gewesen als ich begriff, dass ich all diese Male nur gewonnen hatte, weil Manu mich gelassen hatte. Er hatte mich glücklich machen wollen und für den Moment hatte es auch funktioniert, aber im Endeffekt hatte er es damit nur schlimmer gemacht. Zumindest für eine Weile. Später hatte ich es zu schätzen gewusst. Manu hatte das für mich getan. Er hätte alles für mich getan. Genauso wie ich alles für ihn getan hätte.

Es ging nur langsam voran, aber zumindest ging es das überhaupt. Jedes Haus, an dem wir vorbeiliefen kannte ich von früher. Es war alles gleichgeblieben. Im Grunde stimmte das nicht. Bei mehreren Häusern sah ich, dass sich etwas verändert hatte. In den letzten Jahren hatten sich mehrere wohl endlich die Zeit genommen, um ihre Häuser zu reparieren. Manche hatten die Fassade neu gestrichen, andere haben die Dächer erneuert. Auch die Vorgärten schienen gepflegter zu sein. Nicht bei allen, aber viele hatten Blumen gepflanzt. Auch in Häusern, in denen Leute lebten, die früher jede Pflanze umgebracht hatten. Ich war nicht die Einzige, die sich in den vergangenen Jahren verändert hatte.

Je weiter wir liefen, desto mehr wusste ich über die Menschen, die dort lebten. Ich fragte mich, ob jemand umherzogen war oder vielleicht Nachwuchs erhalten hatte. Oder, ob noch jemand, abgesehen von meiner Familie, gestorben war...

„Hier wohnen ganz sicher andere Menschen als früher.", murmelte ich und blieb vor einem Haus stehen, dass früher einmal weiß gewesen war. Weiße Fassade, rotes Dach, ein Vorgarten mit perfekt gemähtem Rasen. Anfangs hatten wir Witze darüber gemacht, dass der Rasen so perfekt aussah, dass sie bestimmt einzelne Halme mit der Schere abschnitten. Es stellte sich aber heraus, dass es kein Witz war. Einmal als Manu und ich zur Schule gelaufen waren, hatten wir tatsächlich die Frau auf dem Boden knien gesehen mit einer Gartenschere in der Hand, die den Rasen bearbeitete. Wir hatten uns zusammenreißen müssen, um nicht auf der Stelle loszulachen. Manu hatte mich angesehen und ohne ein Wort rannten wir im selben Augenblick los, um eine Straße weiter stehen zu bleiben und uns vor lauter Lachen die Bäuche zu halten.

Diese Menschen, die eine exakte Kopie von Barbie und Ken gewesen waren und die spießigsten Menschen waren, die ich jemals kennengelernt hatte, konnten unmöglich noch in diesem Haus leben. Die Fassade war gelb, das Dach grün und zu allem Überfluss waren die Fensterläden und das Geländer rosa. „Das Haus sieht aus wie die Villa Kunterbunt."

„Wenn gleich ein Pferd auf die Veranda tritt, bin ich fertig.", stimmte Robin mir zu und betrachtete amüsiert das Haus.

„Oder ein Affe."

„Auch das."

Ich riss mich von dem Anblick los und lief einige Meter weiter. Es war irgendwie witzig, wie Häuser, die ich früher nie beachtet hatte, nun trotzdem Erinnerungen in mir weckten. Noch seltsamer war es, dass sie mich gleichzeitig unfassbar schmerzten, aber mich auch ein kleinen wenig glücklich machten.

Es waren gute Erinnerungen. Erinnerungen, die nichts mit dem Unfall zu tun hatten. Szenen, die mich an die schöne Zeit mit meinem Bruder erinnerten.

Natürlich ließen sie mich aber nicht die anderen Sachen vergessen. Mit jedem schönen Bild, dass hiervon heraufbeschworen wurde, spielten auch zwei furchtbare Erinnerungen an den Unfall und ihren Tod in meinem Kopf ab.

Ich konnte ihnen nicht entkommen.

Ein Blick über meine Schulter ließ mich zusammenzucken. Ich konnte die Abzweigung noch deutlich sehen. Ich war viel weniger weit vorgedrungen als ich gedacht hatte. Ich hatte mir die Häuser einzeln angeschaut, ohne der Entfernung Beachtung zu schenken. Ich hatte Angst vor dem Gedanken gehabt, dass unser Haus schon zu nah war, aber die Wahrheit war, dass ich noch ein riesiges Stück vor mir hatte. Wie sollte ich das schaffen? Ich hatte das Gefühl schon seit Stunden hier zu sein, aber wahrscheinlich war ich das nicht. Wahrscheinlich hatte sich die Zeit nur für mich elendig langgezogen. Oder ich war schon seit Stunden hier und kam einfach nicht voran. Wie einer dieser Alpträume, in denen man rannte und rannte, aber einfach nicht von der Stelle kam.

Meine Knie gaben nach und ich setzte mich auf den Bürgersteig gegen den Zaun eines Spielplatzes gelehnt.

Ich erinnerte mich noch, wie dieser Spielplatz in den ersten Jahren meines Lebens nicht viel mehr als eine Todesfalle gewesen war. Kein Kind war es erlaubt dort hinzugehen. Das Holz war so morsch, dass alles dafür sorgen konnte, dass es unter einem nachgab. Auch die Metallkette der Schaukel bestand mehr aus Rost als aus irgendetwas anderem. Es hatte Jahre gedauert bis die Gemeinde den Bürgermeister dazu überredet hatte diesen Spielplatz zu renovieren.

Anfangs hatte man geglaubt, dass sie den Spielplatz einfach abreißen wollten, doch in Wahrheit hatten sie die ganze Zeit über vorgehabt anschließend etwas viel besseres hinzubauen. Dass sie es nicht von Anfang an gesagt hatten, lag nur daran, dass der Bürgermeister, der ein ziemlicher Idiot gewesen war, wollte, dass die Menschen dachten, sie hätten verloren. Eine dumme Aktion, schließlich wollte er im kommenden Jahr wieder gewählt werden und obwohl wir wohl den modernsten und coolsten Spielplatz der Stadt bekommen hatten, hatte so gut wie keiner mehr seine Stimme für ihn gegeben. 

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now