080

110 17 17
                                    

„Was hast du heute vor?", fragte Robin, während ich versuchte mir die Fotos an der Wand anzuschauen, ohne in Tränen auszubrechen. Die Fotos zeigten verschiedene Orte Hofonds und dessen Umgebung. So nah war ich meiner Heimatsstadt seither nicht mehr gekommen. Es war eine schöne Stadt. Klein, aber schön. Viele Jugendliche wollten hier immer weg. Sie wollten nicht so ländlich leben und klar hatte man in einer großen Stadt mehr Möglichkeiten, aber ich hatte nie ein Problem damit. Ich war ganz froh hier aufgewachsen zu sein. Wäre ich in einer Großstadt aufgewachsen hätte ich viel weniger Freiheuten gehabt. Klar kann auch in einem Dorf etwas passieren, aber es war sicherer als in der Hauptstadt. Man durfte also schon in jüngeren Jahren allein durch die Straßen ziehen, man durfte länger draußen bleiben. Aber abgesehen davon, hatte ich wahrscheinlich auch leicht reden. Ich hatte kein Interesse daran gehabt andere Sachen zu erleben. Ich hatte in Hofond das machen können, was ich geliebt habe. Ich hatte die Möglichkeit gehabt meiner Leidenschaft nachzugehen. Direkt vor der Haustür. Andere hatten dieses Privileg nicht gehabt. Manche von ihnen hätten in einer Großstadt vielleicht ihre eigene Passion entdecken können, die ihnen hier verwehrt geblieben ist. „Willst du allein sein oder soll ich dich begleiten?"

„Oh, Tschuldige." Ich ließ meinen Blick zurück auf Robin gleiten. „Ähm... Ganz wie du willst. Ich will dich nicht zwingen irgendetwas zu tun, was du gar nicht willst."

„Ich will das tun, was du brauchst. Wenn du es allein machen willst, dann bin ich weg. Wenn du mich dabei haben willst, dann musst du mir nur den Weg weißen."

Die Wahrheit war, dass ich ihn unbedingt dabeihaben wollte, denn ich bezweifelte, dass ich es ohne ihn schaffen würde, aber ich wollte auch nicht, dass er seinen Urlaub nur damit verbrachte mir einen Gefallen zu tun. Wie kam es eigentlich, dass ich immer den Urlaub anderer Menschen verdarb? Erst Adrian, jetzt Robin.

Er lächelte mich an, ohne auch nur ein kleines Zeichen Ungeduld erkennen zu lassen.

Ich seufzte, als ich mich für die Wahrheit entschied: „Wenn es dir wirklich nichts ausmacht, dann würde ich mich sehr freuen, wenn du mich begleitest. Auch wenn ich noch nicht weiß, was genau ich vorhabe."

„Das ist völlig in Ordnung."

„Was völlig in Ordnung wäre ist, wenn du dich umentscheidest. Du kannst jederzeit gehen." Auch wenn ich hoffte, dass er das nicht tat. „Es wird ganz sicher nicht spannend. Eher im Gegenteil. Es wird wohl verdammt langweilig für dich und es ist nicht fair, wenn ich dich dazu zwinge die langweiligsten Ferien überhaupt zu haben."

„Du zwingst mich nicht, schon vergessen?" Er griff nach meiner Hand, die auf dem Tisch gelegen hatte und strich mit dem Daumen über meinen Handrücken. „Ich möchte das machen."

„Das sagst du zwar, aber das ist dämlich. Keiner möchte so etwas machen. Es gibt Menschen, die bereit sind so etwas mitzumachen, weil ihnen die andere Person wichtig ist, weil man der Person helfen will, weil man ein gutes Gefühl hat, wenn man es getan hat, aber keiner möchte seine Ferien so verbringen."

„Na gut." Er zuckte mit den Schultern. „Wenn es dir so lieber ist: ich möchte dir wirklich gerne helfen, weil du mir sehr wichtig bist. Und wenn es dir besser geht, dann geht es auch mir besser. Mit anzusehen, wie sehr dich das alles belastet, tut auch mir weh."

Ich musste den Blick abwenden.

„Für jeden Menschen gibt es eine eigene Art mit einem Verlust umzugehen, aber keiner sollte es allein durchstehen müssen." Er drückte meine Hand fester. „Und du musst das nicht. Ich bin hier und ich bleibe. Versprochen."

„Danke.", flüsterte ich leise und bevor ich es mir anders überlegen konnte stand ich auf und verließ den Frühstücksraum.

Robin und ich liefen schon eine Weile, ohne bestimmtes Ziel. Er hatte seinen Arm um mich gelegt. Ich war mir nicht sicher, ob es nur seine Angewohnheit war, er mir zeigen wollte, dass ich nicht allein war oder ob er mich stützen wollte. Auf jeden Fall war er mir eine Stütze. In doppelter Hinsicht. Er stützte meinen Körper, der immer wieder drohte zusammenzubrechen und er war mir ebenfalls eine moralische Stütze.

In meinem Kopf wirbelten die Bilder des Umfalls umher, aber was mir zusätzlich noch mehr Sorgen machte war die Tatsache, dass es jetzt schon so schlimm war. Jemand schien mein Gehirn mit einem Mixer zu bearbeiten, so sehr schmerzte es. Meine Haut schien in Flammen zu stehen, bis auf die Stellen an denen ich Robins Arm spürte. Mein Magen schien zu überlegen, ob er jegliche Nahrung wieder loswerden sollte. Doch, wenn es jetzt so schlimm war, wie sollte es dann weitergehen? Wir liefen gerade die Stadtgrenze entlang. Ich hatte noch nicht einmal einen Fuß in Hofond gesetzt und trotzdem ging es mir bereits so dreckig. Wie sollte das dann was werden? Ich konnte mich nicht dazu überwinden einen Schritt über die Grenze zu setzen und dabei war diese Linie nicht einmal wirklich da. Ich wusste nicht, ob die Stadtgrenze wirklich genau dort verlief. Ich glaubte mich aus Grundschultagen daran zu erinnern, aber es war schon viele Jahre her. Doch das entscheidende war, dass ich nicht mal in der Lage war diese imaginäre Linie zu passieren. Wie also sollte ich es schaffen durch die Stadt zu laufen, durch meine alte Straße. Wie sollte ich es schaffen vor meinem Haus zu stehen. Wie sollte ich es schaffen jemanden aus meinem vergangenen Leben wiederzusehen.

Am Ufer des Sees hielt ich an und setzte mich schließlich auf den Boden. Robin folgte meiner Bewegung, ohne sich von mir zu lösen. Seufzend ließ ich meinen Kopf auf seiner Schulter sinken.

Einige Minuten verstrichen, bevor ich mich traute zu sprechen. Meine Stimme klang heißer und zitterte leicht: „Das alles hier... Es fühlt sich so vertraut an... Doch zur selben Zeit wirkt es so unfassbar fremd. Diese Stadt war mein zuhause. Ich habe es hier geliebt. Ich hatte geglaubt, dass ich niemals von hier weggehen würde. Vielleicht ein paar Jahre, sollte ich studieren oder so etwas, aber danach wäre ich wieder zurück gekommen. Daran hatte ich nie gezweifelt. Hofond war der Ort gewesen, an dem ich mein Leben verbringen wollte."

„Das klingt schön."

„Das war es... Aber jetzt? Jetzt macht mir die Stadt Angst. Ich traue mich nicht einmal sie zu betreten. Selbst hier lassen mich die Bilder nicht los. Ich kann ihnen nicht entkommen. Es tut so unfassbar weh."

Robin zog mich enger an sich. „Ich weiß, Elle, ich weiß. Ich wünschte ich könne sagen, dass es vorüber geht, aber das kann ich nicht. Es wird aber besser. Was du hier tust ist unglaublich. Du hast eingesehen, dass du der Erinnerung nicht weglaufen kannst, und du stellst dich ihr. Das erfordert unglaublich viel Stärke. Stärke, die du in dir trägst."

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now