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Am nächsten Tag standen wir wieder im Haus und putzten die obere Etage. Wir hatten in der Pension übernachtet, aber ich hatte Robin gesagt, dass ich versuchen würde, die kommende Nacht in diesem Haus zu schlafen. Mittlerweile bereute ich es ein wenig das gesagt zu haben, aber ich hatte gewusst, dass das passieren würde. Das war der Grund gewesen, warum ich den Plan mit Robin geteilt hatte. Ich hatte gehofft, dass mich der Druck von außen zwingen würde, es wirklich zu probieren. Ich musste mich einfach selbst zu jedem weiteren Schritt zwingen und auch wenn ich mein Vergangenheits-Ich immer wieder dafür hasste, schien es so zumindest zu funktionieren. Anders wäre ich niemals dort, wo ich jetzt war.

Die Stunden verstrichen und als unsere Mägen anfingen zu knurren, gingen wir einkaufen. Es war nie eine gute Idee hungrig einkaufen zu gehen, aber wir hatten uns eine Liste geschrieben und geschworen nur das zu kaufen, was auch wirklich draufstand. Es funktionierte nicht ganz, aber zumindest fast. Nur eine Sache kam noch dazu. Wir kauften eine Packung Schokoladeneis, aber das konnte man verkraften.

Jetzt standen wir also in unserer alten Küche und begannen damit den Lauch und die Karotten zu schneiden.

Im Hintergrund lief Musik und auch wenn ich es kaum für möglich gehalten hätte, fühlte ich mich unbeschwert. Ich hatte Spaß. Wir lachten, warfen uns gegenseitig die Zutaten zu, ich sagte ihm in welche Schubladen er schauen musste, wenn er was suchte und wir tanzten sogar ein wenig durch die Küche. Wir waren eine Weile beschäftigt und trotzdem fühlte es sich an wie ein Wimpernschlag, als wir die Linsenlasagne in den Ofen schoben.

„Mal sehen, ob sie so gut schmeckt, wie die von deiner Mutter."

„Ich bezweifle es." Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich auf die Theke.

Robin stellte sich zwischen meine Beine und strich eine störrische Strähne hinter mein Ohr.

Lächelnd legte ich meine Arme um seinen Hals. „Aber selbst, wenn sie nicht so gut schmecken wird, wie damals: danke, dass du sie mit mir gemacht hast. Es hat sich jetzt schon gelohnt."

Seine Hände lagen auf meiner Hüfte. „Ich danke dir. Ich hätte nicht gedacht, dass kochen so viel Spaß machen kann."

Seine schwarzen Augen hielten meine gefangen. Ich konnte mich selbst in ihnen spiegeln sehen. Ich konnte noch immer nicht begreifen, warum er das alles für mich tat. Es ergab einfach keinen Sinn. Er machte viel zu viel für mich. Wir hatte ich ihn nur so falsch einschätzen können. Er war ein guter Mensch. Klar hatte er sich am Anfang scheiße verhalten und trotzdem konnte ich nicht anders, als mich für meine frühere Meinung über ihn zu schämen. Vielleicht war er damals wirklich noch ein schlechterer Mensch gewesen als jetzt. Vielleicht hatte er sich in den vergangenen Monaten genauso sehr verändert, wie ich es getan hatte. Andererseits hatte Kim schon immer gesagt, dass er großartig war und ich es nur nicht sehen konnte.

Ich wusste es nicht, aber es tat auch nichts zur Sache. Ich war einfach froh, dass er bei mir war.

Ohne zu merken, wie die Zeit verstrichen war, schreckten wir überrascht auseinander als der Timer klingelte, der anzeigte, dass die Lasagne fertig war.

Sie schmeckte gut, aber nicht so gut, wie ich sie in Erinnerung hatte. Vielleicht hatte ich sie aber in meinem Kopf auch noch besser gemacht als sie wirklich gewesen war.

Ich hatte für einen Moment die Sorge gehabt, dass es nach eben komisch zwischen Robin und mir sein würde, aber das war unbegründet gewesen. Wir lachten viel während des Essens und keiner von uns erwähnte das, was eben geschehen war. Genauso wenig wie jemand von uns den Kuss von neulich Abend erwähnt hatte, nachdem es passiert war.

Auch wenn wir eine Spülmaschine hatten, spülte Robin per Hand und ich trocknete das Geschirr ab. Das ergab mehr Sinn, schließlich wusste ich genau wo die Sachen hingehörten.

Ich wusste, dass ich noch einiges tun musste, wenn ich hier heute Nacht übernachten wollte. Nicht, um mich vorzubereiten, sondern um zu verhindern, dass ich es nicht durchzog. Ich konnte nicht stundenlang einfach hier rumsitzen und nichts tun. Ich musste mich ablenken. Musste etwas zu tun haben. Mich selbst beschäftigen.

Ich fing wieder an zu putzen, aber das Haus war sauber. So viel Dreck hatte sich nicht angesammelt in einem Haus, in dem keiner lebte. Also begann ich auch draußen sauber zu machen. Die kleine Veranda vor unserem Haus. Ich dachte nicht wirklich darüber nach, aber aus irgendeinem Impuls heraus öffnete ich den Briefkasten. Ich hatte nicht ernsthaft erwartet, dass sich etwas darin befinden würde und doch lag neben einiger Werbeflyer, ein brauner gepolsterter Briefumschlag drin, auf dem mein Name stand. Den Absender kannte ich nicht. Der Poststempel zeigte, dass es fast drei Jahre her war, dass der Umschlag abgeschickt wurde.

Robin folgte mir nach drinnen auf das Sofa.

„Von wem ist es?", fragte er.

Ich zeigte ihn die Anschrift. „Keine Ahnung."

„Elena Garcia...", murmelte er.

„Das bin ich, nicht die Person, die es abgeschickt hat."

„Ja, schon klar." Er verdrehte die Augen. „Mir ist gerade nur aufgefallen, dass wir das damals ganz falsch verstanden haben."

„Wer? Und was?"

„An deiner Tür im Internat steht Elena Meissner."

Ich nickte. „Das ist Christophs Name. Ich habe meinen Namen nicht geändert, aber in den Unterlagen geht das erstaunlich oft schief, was es nicht tun sollte, aber so ist es. Ich hab mir nicht die Mühe gemacht es ändern zu lassen."

„Ja, das habe ich mir jetzt auch gedacht..."

„Was habt ihr gedacht?"

„Wir hatten damals spekuliert, dass deine Eltern sich vielleicht hatten scheiden lassen und du den Namen deiner Mutter angenommen hast."

„Oh..." Ich nickte. „Das wäre eine Möglichkeit gewesen, aber nein..."

Der Umschlag war unförmig. Es war kein Brief, der da drin lag. Es musste irgendein Gegenstand sein. Nur was? Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, riss ich den Umschlag auf und schüttelte den Inhalt aus. Ein Keuchen entwisch mir als ich den Gegenstand erkannte und reflexartig ließ ich ihn los.

Die goldene Medaille fiel klappernd auf den Boden.

Robin hob sie auf und hielt sie mir hin, aber ich schüttelte den Kopf. Die Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. Ich wusste nun ganz genau, worum es sich handelte. Trotzdem griff ich mit zitternden Fingern nach dem kleinen Zettel, der ebenfalls im Umschlag gelegen hatte:

„Liebe Elena Garcia,

Wir möchten uns herzlich bei Ihnen entschuldigen, dass Ihre Medaille erst jetzt entdeckt wurde. Es scheint als wäre sie beim Aufräumen unter die Tribüne gefallen und erst jetzt, bei der Vorbereitung des nächsten Wettbewerbes bei uns, gefunden worden.

Wir würden uns freuen, wenn Sie ihr Talent bei weiteren Wettkämpfen bei uns begrüßen dürften.

Noch einmal herzlichen Glückwunsch für Ihren außerordentlichen Sieg!

Mit freundlichen Grüßen

Paul Schmidt"

„Elena Garcia, erster Platz-", begann Robin, unterbrach sich aber selbst, bevor er das Datum vorlas. „Scheiße. Ist das..."

„Vom Tag des Unfalls, ja.", bestätigte ich. „Genau das."

Diese Medaille war bei Weitem schlimmer als die, die in meinem Zimmer waren. Ich hatte mich nie gefragt, wo sie war. Ich hatte nicht einmal geahnt, dass ich sie dort vergessen hatte. Ich wollte sie nicht sehen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals über ihren Verbleib nachgedacht zu haben.

Doch jetzt war sie hier.

Es dauerte ein paar Minuten, bis ich sie in die Hand nehmen konnte und über die Gravur des Schwimmers strich.

Ich sollte stolz darauf sein. Ich hatte gewonnen. Auch wenn ich nur kurze Zeit später, alles verloren hatte. 

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now