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Ich war mir nicht sicher gewesen, ob sie nach ihrer Rückkehr vielleicht in ein anderes Haus gezogen waren, aber das waren sie nicht. Eigentlich hätte ich es auch ahnen können. An Geld mangelte es der Familie Schneider nicht. Hatte es noch nie. Sie könnten auch zehn unbenutzte Häuser haben und es würde sie nicht merklich belasten. Warum also hätten sie das Haus verkaufen sollen, in das sie so viel Arbeit gesteckt hatten?

Umso schwerer aber wurde es für mich. Denn man könne sagen, es sei praktisch, dass ich wusste, wie wir zu ihrem Haus gelangten, aber nun stand ich da. Auf dem Gehweg vor ihrem Haus und hatte das Gefühl mein Körper wäre zu Stein erstarrt. Ich wusste nicht, wie ich mich vom Fleck bewegen sollte. Robin hatte seinen Arm um mich gelegt, während er in der anderen die Schachtel Pralinen und den Blumenstrauß hielt, den wir eben noch als Gastgeschenk gekauft hatten.

Ein Teil von mir nahm wahr, wie Robin mir etwas zuflüsterte, wahrscheinlich motivierende oder Aufbauende Zusprüche, doch es war mir nicht möglich auch nur einen Satz davon aufzunehmen. Meine Ohren blockten alles ab.

Ich seufzte und dann, ohne länger darüber nachzudenken, trat ich schnell die wenigen Stufen hoch, doch dort erstarrte ich wieder. Jetzt stand ich vor der Haustür. Immerhin.

Ich hätte nur meinen Arm heben müssen und ich hätte klopfen können... oder Klingeln.

Es wäre nicht schwer. Das Schwere kam erst danach. Das kam erst, sobald die Gespräche begannen.

Mehrmals hob ich die Hand, nur um sie dann wieder fallen zu lassen. Ich wusste auch, dass ich nur ein Wort sagen müsste oder sogar ein Nicken Robin gegenüber würde reichen, damit Robin das übernahm, aber das konnte ich nicht. Schließlich fürchtete ich mich weniger vor dem Klingeln als vor dem, was danach auf mich zukam. Ich fürchtete mich davor in dieses Haus zu gehen. Sie wieder zusehen. Mit ihnen zu essen.

Wieder hob ich meine Hand und mein Finger schwebte vor der Klingel. Es fehlte nicht viel und ich würde drücken, doch meine Hand bliebt genau dort. Diese letzten Centimeter konnte ich einfach nicht überwinden.

Doch wie es das Schicksal wollte, hieß mein Versagen nicht, dass wir es einfach bleiben ließen. Nein. Die Tür wurde aufgerissen und noch bevor ich die Person wirklich sehen konnte, fand ich mich bereits in einer stürmischen Umarmung wieder. Sie redete auf mich ein, stellte eine Menge Fragen, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht konzentrieren.

Der blumige Geruch, der mir in die Nase glitt, löste eine Welle der Emotionen und Erinnerungen aus. Eiskalte Schauer krochen über meinen Rücken, während die Hitze in mir aufstieg. Mein Herz pochte viel zu schnell und nur ihre feste Umarmung hinderte mich daran zu zittern.

Noch immer hatte ich Katharina nicht gesehen, aber das war wohl auch besser. Ihr Anblick hätte mich vermutlich nur noch mehr aus der Bahn geworfen. Ich hatte gewusst, dass sie da sein würde und trotzdem war ich nicht bereit gewesen.

Als sie sich langsam von mir löste, ballte ich meine Hände zu Fäusten, um sie am Zittern zu hindern, während ich meinen Blick auf den Fußboden richtete. Noch immer hatte ich kein Wort gesagt, aber ich spürte, wie ihr fragender Blick auf mich gerichtet war.

Wie so oft in letzter Zeit, kam mir Robin zur Hilfe. Er streckte seine Hand aus und stellte sich vor: „Freut mich Sie kennenzulernen Frau Schneider, ich bin Robin."

„Hallo Robin, aber nenne mich doch bitte Katharina. Elle gehört doch zur Familie und damit du auch."

Ihre Worte schnürten mir die Kehle zu. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Sie das sagen zu hören. Sie nannte mich Familie, nach allem was geschehen war. Nach allem, was nicht geschehen war.

Meine Augen brannten und ich spürte die drohenden Tränen, doch ich versuchte mich auf Robins warme Hand an meinem Rücken zu konzentrieren. Ich war nicht allein. Er war bei mir. Das war die eine Sache, die ich nicht vergessen durfte. Mit ihm an meiner Seite würde ich das schon irgendwie hinbekommen und wenn nicht... Er würde mich hier rausholen. Das wusste ich und vielleicht war das der einzige Grund, warum ich meinem Körper anweisen konnte einen Schritt nach Vorne zu gehen und das Haus zu betreten.

Der Flur, durch den sie uns leitete war die reinste Folter für mich. An den Wänden hingen Fotos, die über die Jahre hinweg geschossen worden sind. Ich erinnerte mich an diese Fotos. Ich hatte diesen Flur geliebt. Es war wie eine Zeitreise durch das Leben der Familie Schneider. Die ersten Fotos zeigten nur Achim und Katharina, doch schon bald kam Lisa dazu, ihre Tochter. Die linke Seite zeigte die Familie, jedes Jahr aufs Neue. Die rechte Seite war aber noch viel schmerzhafter, denn die zeigten auch Freunde und mehrmals tauchten dort auch unsere Gesichter auf. Mein Gesicht, das meiner Eltern und natürlich Manus.

Die Fotos riefen nach meiner Aufmerksamkeit, doch das Einzige, was ich wollte war hier zu verschwinden. Ich konnte sie mir nicht anschauen. Wenn ich das tat, dann wäre es um mich geschehen. Ich würde hier noch mehrere Stunden bleiben müssen. Ich konnte nicht schon jetzt zusammenbrechen. Für einen langen Atemzug schloss ich die Augen. Ich versuchte meinen Geist zu räumen. Mich für das zu wappnen, was mir bevorstand.

Ich konnte nicht die ganze Zeit schweigen. Robin versuchte es zwar zu überdecken, indem er sich mit Katharina unterhielt, aber früher der später würde mir nichts anderes übrigbleiben als zu reden.

Die frische Luft als wir den Garten erreichten half mir. Als hätte es mir eine Last von den Schultern geweht, fühlte ich mich augenblicklich besser. Sicher nicht gut, aber besser.

Diesen Garten hatte ich früher geliebt. Er war riesig. Wir hatten hier verstecken gespielt, hatten uns gegenseitig Schnitzeljagden vorbereitet, während die Erwachsenen Kaffee tranken, hatten in der Sonne gelegen oder wir waren sogar schwimmen gewesen, denn weiter hinten im Garten befand sich ein Becken. Eine Mischung aus Badestelle und Teich. Wie jeden Ort mit Wasser hatte ich auch diese Stelle abgöttisch geliebt.

„Wollt ihr etwas trinken?"

Ich rieb mir über den Hals. Meine Kehle war unendlich trocken. Sie fühlte sich an wie Schmirgelpapier. „Wasser, bitte."

Robin drückte meine Hand etwas fester.

„Kommt sofort!" Achim, dessen Auftauchen ich nicht mal wahrgenommen hatte, verschwand wieder nach Drinnen und kam mit zwei Getränken zurück.

„Danke.", antwortete ich knapp. Meine Stimme klang kratzig und irgendwie auch hohl. Ich klang nicht mal nach mir.

Katharina hatte sich hingesetzt, während Robin und ich weiterhin standen. Ich wusste, dass ich mich setzen könnte, doch ich wollte nicht. Ich fühlte mich schon jetzt gefangen, doch wenn ich stand, könnte ich schneller fliehen.

„Es ist so verdammt lang her! Erzähl, Elle, wie ist es dir ergangen?", fragte Katharina. „Es tut mir schrecklich leid, was geschehen ist. Es war furchtbar."

Das war eine Untertreibung.

„Aber wo wohnst du jetzt?"

„Wir wohnen beide in einem Internat in Regensburg.", berichtete Robin.

„Oh wirklich? Gefällt es euch dort?"

„Ja, es ist toll da."

„Ist Lisa auch da?", fragte ich aus einem Impuls hinaus.

Achim schüttelte den Kopf. „Noch nicht, aber sie kommt später. Zumindest glauben wir das. Sie war Zelten mit einigen Freunden, hat aber blöderweise ihr Handy hier liegen gelassen. Sie meinte sie würde wahrscheinlich heute zurückkommen, aber wir wissen keine Uhrzeit. Apropos Lisa, wir grillen vegetarisch. Ich hoffe das ist okay?"

„Mehr als okay.", antwortete ich und klammerte mich an Robins Hand. Jedes einzelne Wort, das meine Lippen verließ bedeutete eine Unmenge an Kraft.

„Bist du direkt danach aufs Internat gegangen?", setzte Katharina das vorherige Gespräch wieder an.

Ich schüttelte den Kopf und Robin antwortete: „Sie ist erst seit diesem Schuljahr dazugekommen."

„Und wo warst du davor?"

Ich schluckte. „Es... Es hat sich herausgestellt, dass ich doch noch Familie hatte. Sie haben mich aufgenommen."

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now