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„Was ist los?" Robins Stimme klang rau. „Es ist doch noch Mitten in der Nacht."

„Schlaf ruhig weiter.", flüsterte ich und strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Ich konnte ihn nur schemenhaft in der Dunkelheit ausmachen. Es war tatsächlich noch sehr früh.

„Dann komm zurück ins Bett." Er streckte einen Arm zu mir aus und mit dem anderen hob er die Decke nach oben.

„Ich glaub das ist keine gute Idee..." Ich seufzte, aber legte mich dann doch in seine Arme, obwohl an Schlaf nicht zu denken war.

„Was ist los?", wiederholte er seine Frage und strich sanft über meinen Rücken.

„Es gibt noch einen Ort, den ich besuchen will, bevor wir fahren, aber ich weiß nicht, wie lange das dauern wird und wir sollten auch nicht so spät los fahren, aber selbst wenn das kein Problem wäre... Ich mach mir Sorgen, dass ich es nicht machen werde, wenn ich es nicht gleich mache."

„Wo willst du hin?", fragte er und wirkte schon viel wacher.

„Zum... Zum Friedhof."

„Oh." Er richtete sich etwas auf. „Sobald die Sonne aufgeht, gehen wir los, okay? Im Dunkeln werden wir das Grab eh nicht finden..."

„Du hast ja recht.", murmelte ich und schloss die Augen. Die Enge in meiner Brust hielt mich wach. Ich hatte versucht noch etwas zu schlafen, aber es ging nicht. Die Fortschritte, die ich gemacht hatte, waren deutlich zu spüren, aber angenehm war es noch immer nicht. Der Schmerz war aber auch nicht mehr das Einzige an was ich denken oder was ich spüren konnte. Ich würde das machen. Es war der letzte Schritt. Das fehlte, um diese Reise abzuschließen. Die Reise in meine Vergangenheit, ohne die ich nicht in die Zukunft konnte.

Wir waren spät nachhause gekommen und hatten vergessen die Rollläden runterzumachen. Als ich es gemerkt hatte, war ich in bereits in Robins Armen eingekuschelt gewesen und wollte nicht aufstehen. Doch als die Dämmerung ansetzte, noch bevor die Sonne aufgegangen war, schlug Robin die Decke weg. „Na dann, machen wir uns fertig."

Ich sprang auf, mit sehr viel mehr Energie als ich haben sollte, ohne geschlafen zu haben, doch dann drehte ich mich mit gerunzelter Stirn zu ihm um. „Ist schon in Ordnung. Schlaf noch etwas. Es ist früh... Ich will nicht, dass..."

„Ist schon in Ordnung, Elle." Er gähnte, während er ins Bad ging. „Mach dir keine Sorgen. Es ist schon in Ordnung."

„Nein, ist es nicht... Du hast kaum geschlafen und wir wollten heute zurückfahren... Aber ich hab keinen Führerschein und..."

„Ich hab genug geschlafen, um uns zum Internat zu fahren und wenn ich müde werde, halten wir irgendwo und ich halte ein Nickerchen. Alles in Ordnung und jetzt, zieh dich an und diskutiere nicht mit mir."

Ich setzte zu einer Antwort an, aber sein Blick brachte mich zum Schweigen. Ich sollte ihm nicht widersprechen. Ich wusste mittlerweile, dass er seine Worte ernst meinte, so unglaubwürdig sie auch schienen. Es war in Ordnung für ihn. Er tat es für mich. Er wollte mir helfen. Er wollte nicht nur, er tat es. Vielleicht war es fast schon beleidigend, dass ich immer noch daran zweifelte. Wie konnte ich ihn so schlecht eingeschätzt haben? War er wirklich schon immer so eine gute Person gewesen? Ja, er hatte mich zur Weißglut gebracht, aber... Ich wollte die Schuld nicht bei mir suchen. Nur weil ich mich nicht gut verhalten habe, war es kein Grund, dass er sich schlecht verhalten hatte, aber es war eben nicht nur er gewesen. Wir hatten uns beide nicht richtig benommen und vielleicht haben wir uns darin dann auch gegenseitig bestärkt. Uns hochgeschaukelt, bis es keinen Weg zurück mehr gab. Nur gab es den. Es hatte einen Weg zurück gegeben. Einen schmerzhaften Weg. Es war als wäre ich in einem Turm gewesen. Wäre der Wendeltreppe immer weiter nach oben gefolgt. Ich hatte mich selbst eingeschlossen in meiner Trauer und den Schuldgefühlen. Die Tür hatte ich selbst versperrt, in dem ich niemanden an mich heran gelassen hatte und Robins Gegenwart hatte mich aus dem Trott herausgerissen. Ich war jahrelang die Treppe nach oben gestiegen, ohne wirklich darüber nachzudenken. Ich wusste, dass ich mich immer weiter einsperrte, aber es war mir egal. Ich war blind vor Trauer, vor Schmerz, vor Schuld. Er riss mich zurück in die Welt. Es war kein schönes Erwachen. Er machte mich wütend und dafür hasste ich ihn, aber er weckte mich. Plötzlich spürte ich wieder etwas. Ich spürte, wo ich war, was ich tat und ich merkte, dass ich mich nicht nur immer weiter von der Tür entfernte, sondern auch, dass die Treppenstufen verschwanden. Es gab keinen Weg zurück. Ich war schon zu tief drinnen. Es gab Lichtblicke, die ich plötzlich bemerkte. Kleine Fenster in dem Turm, die mich einen Blick nach draußen werfen ließen, ohne den Turm verlassen zu können.

Ich war gefangen. Ich konnte nicht zurück gehen und trotzdem hatte es einen Weg gegeben. Es war kein Rettungsausgang gewesen. Ich hatte keine Feuertreppe gefunden, die mich sicher wieder raus brachte, ganz sicher auch keinen Fahrstuhl. Nein, nichts dergleichen.

Mein Ausweg war der Abgrund gewesen. Die Stufen unter mir waren verschwunden und gaben das nichts frei. Es ging nur nach unten. In die Dunkelheit. In das absolute nichts und dort war ich hineingesprungen. Bei dem Wettkampf war ich ins Wasser gesprungen. Metaphorisch in den Abgrund.

Ich hatte nicht gedacht, dass ich das Überleben könnte. Doch genau das war geschehen. Es war schmerzhaft gewesen. Wirklich schmerzhaft, aber ich hatte überlebt.

Ich war wieder unten. Ich war an der Tür. An der verschlossenen Tür zwar, aber an der Tür. Robin stand auf der anderen Seite. Er sprach mit mir. Er war meine Verbindung zur Außenwelt. Er half mir, die Mauer zu durchbrechen. Es war viel Arbeit und immer wieder schien sich die Wand wieder zu erneuern, aber ich wusste, dass wir fast durch waren. Es fehlte nicht mehr viel. Bald würde ich frei sein. Bald schon würde ich den Turm verlassen können.

Er würde immer in meiner Erinnerung bleiben. Es war ein Teil meines Lebens geworden, den ich nicht mehr loswerden würde, aber ich wäre nicht mehr darin gefangen. 

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now