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Die letzten Monate waren förmlich an mir vorbeigezogen. Vor allem am Anfang hatte ich gerade genügend Energie, um die Woche zu überstehen. Neben der Schule hatte mich das Training mit Kim völlig ausgesaugt. Ich war zu nichts zu gebrauchen gewesen. Wenn wir Zeit zu viert verbracht hatten, war ich teilweise nur körperlich anwesend und jedes Mal, wenn wir uns einen Film anschauten, schlief ich dabei ein.

Nach einer Weile wurde es etwas besser. Mit jedem neuen Training, erforderte die Anwesenheit im Schwimmbad weniger Kraft. Angenehm war es aber nie. Doch da es besser wurde, verlangte ich mir selbst mehr ab. Kim wurde immer nervöser und sie lag mir so sehr in den Ohren, wie gut sie mein Training fand, dass ich nicht anders konnte, als vorzuschlagen, dass wir es zweimal pro Woche machen konnten, sobald ich dazu in der Lage war. Was natürlich dazu führte, dass ich mich selbst wieder an die Grenze meiner Kräfte brachte.

Ich hatte bei Kim tatsächlich Fortschritte gesehen. Ihre Technik war um einiges sauberer und sie schien auch, zumindest teilweise, verstanden zu haben, was ich gemeint hatte, als ich ihr gesagt hatte, dass das Wasser ihr Freund war und nicht ihr Feind. In dem Bereich gab es zwar eindeutig noch Luft nach oben, aber es war ein sehr guter Anfang, der sogar dazu geführt hatte, dass sie ihren eigenen Rekord, um drei Sekunden verbessert hatte.

Mittlerweile war ich an einen Punkt angekommen an dem ich recht gut damit umgehen konnte. Es fühlte sich nicht angenehm an, aber es war in Ordnung. Ich konnte eine Stunde neben dem Becken stehen, ohne danach nicht sofort ins Bett fallen wollen. Mir war es natürlich lieber nicht dort zu sein, aber ich verkraftete es. Anders war es eindeutig noch, wenn ich mit Wasser in Kontakt kam. Auch wenn ich mir einbildete, dass selbst das besser geworden war. Es kostete mich noch immer Überwindung in die Dusche zu steigen oder mir die Hände zu waschen, aber ich zögerte nicht mehr ganz so lange und das Brennen war nicht mehr ganz so heiß. Vielleicht redete ich mir das aber auch nur ein. Was allerdings auch nicht schlimm wäre, denn wenn ich mir einreden konnte, dass es mich weniger schmerzte, dann schmerzte es mich automatisch tatsächlich weniger.

Ich saß im Schneidersitz am Ufer des Sees. Es war noch früh, die Sonne ging gerade auf, wodurch hier noch niemand war. Niemand, bis auf mir.

Nachts war es noch etwas frisch, aber insgesamt war der April überraschend warm.

Mein Handy vibrierte und als ich es aus der Tasche zog, sah ich eine neue Nachricht von Adrian:

„Bist du bereit?"

„Nein?"

„Was hab ich dir über Optimismus beigebracht?"

„... Ja?"

„Nochmal richtig!"

„Ja."

„Lauter!"

„JA! Ich bin bereit!"

„So gefällt mir das!"

„Eigentlich sollte es nicht so schwer sein..."

„Eben! Du warst jetzt schon so oft im Schwimmbad und heute wirst du sogar weiter vom Becken entfernt sein als sonst"

Das stimmte. Heute würde ich neben dem Becken stehen. Heute würde ich auf der Tribüne sitzen. Allerdings machte es das nicht besser, sondern nur anders. Vielleicht sogar schlimmer. Heute war die EOCYSC. Ein richtiger Schwimmwettkampf. Das hatte ich seit dem Tag des Unfalls nicht mehr mitgemacht. Schon der Gedanke daran schnürte mir die Kehle zu. Trotzdem würde ich hingehen. Ich musste es tun. Für Kim. Sie würde enttäuscht sein, wenn ich nicht käme. Außerdem wollte ich sie ja auch unterstützen. Ich wollte für sie da sein. Ich wollte sehen, wie sie und ihre Mannschaft schwammen und sich, hoffentlich, für die nächste Runde qualifizierten.

„Aber Optimismus beiseite. Wie geht es dir?"

Ich seufzte, bevor ich anfing meine Antwort zu tippen. Wieso war er so ein guter Mensch? Ich hatte ihm nicht erzählt, warum mich das so fertig machte und trotzdem schien er es zu verstehen und vor allem einfach zu akzeptieren. Er ließ mich nie das Gefühl habe, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. „Ich hab Angst. Ich will das tun, aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Aber ich muss es können. Verstehst du? In mir wütet gerade ein Kampf, aber eigentlich ist es egal, weil ich es auf jeden Fall machen werde. Ich werde da hingehen. Was danach geschieht, wenn ich dort bin, das werde ich dann sehen..."

„Ich bin mir sicher, dass du das schaffst!"

„Du glaubst immer mehr an mich, als ich es selber tue..."

„Weil du deine Stärke nicht siehst, aber ich schon"

Meine Stärke... Genau damit hatte es angefangen. All die Fortschritte, die ich gemacht hatte, hatten an dem Tag begonnen, als ich Kim kennengelernt hatte. Als ich mir selbst und Manu versprochen hatte, dass ich meine alte Stärke wiederfinden musste. Dass ich mir selbst in Erinnerung gerufen hatte, dass Manu mir zwar immer den Rücken gestärkt hatte und damit einen großen Teil meiner Stärke ausgemacht hatte, aber es trotzdem meine Stärke war und ich sie daher auch wieder erlangen konnte.

Was ich, zumindest teilweise, auch geschafft hatte. Es war besser geworden. Ich hatte mich genug öffnen können, um richtige Freunde zu haben. Ich war nicht mehr nur allein. Nicht mehr so sehr in mich gekehrt. Ich hatte gelernt, dass ich leben musste. Nicht nur überleben, sondern leben. Dass meine Familie nicht gewollt hätte, dass ich, nur weil sie tot waren, vergaß, dass ich noch lebte.

Und ich hatte gelernt in ein Schwimmbad zu gehen.

Das schien vor einem halben Jahr noch unmöglich.Unmöglicher als unmöglich. 

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt