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Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie sich durch die Menge zu mir gekämpft hatten, was den unangenehmen Nebeneffekt hatten, dass mich jetzt jeder anstarrte. Alle schienen wissen zu wollen, was den Aufruhr verursacht hatte. Warum sie alle zu mir kamen. Warum sie so geschockt schienen. So aufgeregt.

Meine Fingernägel bohrten sich in meine Handfläche als ich versuchte das Zittern zu unterdrücken. Ein Stacheldraht schien sich immer enger um meine Kehle zu ziehen, bis ich keine Luft zu kriegen schien.

Ich hatte das dringende Bedürfnis mich zu übergeben, aber das würde auch nicht helfen. Sie kamen immer näher. Mit jeder Sekunde die verstrich.

„Ganz ruhig.", hörte ich plötzlich Robins sanfte Stimme an meinem Ohr und spürte seine warme Hand auf meinem Rücken. „Du kannst das. Ich bin bei dir. Du bist nicht allein."

Ich warf ihm einen dankenden Blick zu und seine schwarzen Augen, die mit der Dunkelheit der Nacht verschmolzen, beruhigten mich.

Ich konnte das. Es war bei mir. Ich war nicht allein.

„Hi.", begrüßte ich meine alten Freunde, als sie vor mir stehen blieben, und hob kurz meine Hand zum Gruß.

Ich erkannte die Gesichter ohne Probleme. Manche hatten sich verändert, aber das hinderte mich nicht daran sie zu erkennen. Ganz vorne dabei waren Leo, Marie, Anna und Paul.

Sie alle starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an, doch keiner sagte etwas.

Es war als hätte die akute Nähe zu mir ihnen die Sprache verschlagen. Auch ich brachte nach der kurzen Begrüßung keinen Ton mehr raus.

„Hey Elle! Wie schön, dass du wirklich gekommen bist!", kam dann eine Stimme von hinten. Es dauerte einen Augenblick, bis ich sie zu Klara zuordnen konnte, aber da umarmte sie mich schon und anschließend auch Robin. „Hey Robin."

Das war der Moment, an dem auch in Paul wieder Bewegung kam. „Du wusstest, dass sie da ist? Wie? Wann? Warum hast du nichts gesagt? Und du auch nicht? Seit wann bist du wieder da? Seit wann weißt du davon? Warum hast du nichts gesagt?"

„Ich habe sie darum gebeten.", antwortete ich an Klaras Stelle. Wobei ich nicht wusste, ob ich vielleicht ohnehin die Person war, von der zu antworten erwarten wurde. „Ich war nicht sicher, ob ich kommen würde. Also denkt nicht, dass ich ihr davon erzählt hätte und dem Rest nicht. Das war alles nicht so geplant. Die Sache war mehr ein großer Zufall. Klara hat mich gesehen und deswegen weiß sie, dass ich in der Stadt bin... Ich hatte, wenn ich ehrlich bin, nie vor auch nur eine Person von euch zu sehen... Ich..." Meine Stimme stockte und sofort zog mich Robin näher an sich ran.

„Seit wann bist du wieder hier?", fragte Paul, aber Marie widersprach sofort: „Nebensächlich. Viel wichtiger ist die Frage, warum zum Teufel du damals einfach verschwunden bist. Ohne etwas zu sagen? Nicht ein Wort!"

Ich senkte den Blick und versuchte die aufkommenden Tränen wegzublinzeln. Ich wollte nicht vor ihnen weinen. Nicht vor all diesen Menschen, die mich anstarrten. Ich durfte nicht zusammenbrechen. Nicht hier, nicht jetzt.

„Leute, jetzt macht mal langsam!" Klara strich mir kurz über den Arm. „Lasst uns doch wo hin gehen, wo es etwas ruhiger ist. Wo wir etwas mehr unter uns sind."

„Du hast recht.", stimmte Paul ihr zu. „Wohin sollen wir gehen?"

„Zum Lagerfeuer. Isa macht es gerade an."

Wir folgten Klara einen schmalen Weg entlang, der zu einer weiteren, kleineren Lichtung führte in der umgefalle Baumstämme um eine Feuerstelle lagen. Auf einem davon saß ein Mädchen, wohl in unserem Alter, mit kurzen dunkelroten Haaren. Bei unserem Anblick sprang sie auf und umarmte mich stürmisch: „Du musst Elle sein! Ich habe ja so viel von dir gehört! Es kommt mir fast vor als würde ich dich schon kennen!"

„Äh Hey."

„Oh, sorry." Sie löste sich von mir und strahlte mich an. „Ich bin Isa. Also eigentlich Isabelle, aber nenn mich ruhig Isa."

„Die Isabelle?", fragte ich mit einem Grinsen und schaute zu Klara.

„Wie es scheint läuft mein Ruf mir ebenfalls voraus.", stellte Isa fest und ging zu Klara, um ihr einen kurzen Kuss zu geben. „Ja, ich bin die Isa. Die beste feste Freundin, die sich Klara wünschen kann."

Klara verdrehte die Augen, aber zuckte mit den Schultern. „Irgendwie hat sie ja recht."

„Leute? Bitte, können wir uns auf das wesentliche konzentrieren?"

„Das ist wesentlich!" Klara kicherte kurz, aber zuckte dann mit den Schultern. „Aber ja, ich weiß, dass ihr gerade sehr viele Fragen habt, aber ihr müsst verstehen, dass das für Elle nicht einfach ist. Also macht es ihr nicht so schwer, okay? Ihr wisst, dass sie einiges durchgemacht hat..."

„Danke.", flüsterte ich.

„Nichts wofür." Sie lächelte mich an. „Eher im Gegenteil... Ich will mich nochmal entschuldigen. Ich weiß, dass ich letztens genau das gemacht habe, von dem ich die anderen gerade bitte es nicht zu tun."

Ich seufzte und schloss für einen Atemzug die Augen. „Ich weiß, dass es viel verlangt ist. Es ist alles andere als einfach. Ich verstehe, dass ihr Antworten wollt. Wirklich, das tue ich. Es ist nur..."

„Es ist alles gut.", flüsterte Robin so leise, dass nur ich ihn hören konnte.

Ich nickte ihm zu und setzte mich auf einen der Baumstämme. Das Feuer wärmte mein Gesicht, aber was mich tatsächlich am Zittern hinderte war Robins Arm, der mich an sich zog.

Nach und nach setzten sich die anderen auch.

Es war die Zeit, die ich benötigte, um weiterzusprechen: „Ich weiß gar nicht, ob ich darüber sprechen kann. Nein, stimmt nicht. Ich weiß, dass ich es nicht kann. Ich bin noch nicht in der Lage es zu erzählen. Viel zu erzählen gibt es ohnehin nicht, aber... Ach verdammt! Ich muss mich bei euch entschuldigen. Das weiß ich. Es war mies von mir euch zu ghosten. Das weiß ich, aber ehrlich? Damals kam es mir wie die einzige Möglichkeit vor. Alles, was mich an mein Leben erinnert hat, tat furchtbar weh. Ich wusste mit nicht anders zu helfen und ja, ich weiß, dass das rational betrachtet total dämlich war. Ich hätte Freunde gebrauchen können... Aber Gefühle sind nicht rational. Das macht sie aus, oder nicht? Gefühle sind irrational. Sonst wären es keine Gefühle. Das macht sie so schwierig. Das macht sie so verdammt schwierig. Ich konnte es nicht. Ganz kann ich es selbst jetzt noch nicht..."

Einige Atemzüge verstrichen, doch dann begannen meine alten Freunde zu nicken. Sie verstanden es. Oder vielleicht akzeptierten sie es auch nur, aber das war schon mehr als ich zu hoffen mir erlaubt hatte. 

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now