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Es war seltsam. Auch wenn ich immer wieder darüber nachdachte, auch wenn meine Gedanken immer wieder zu meiner Familie, zu dem Umfall, zu all dem Schmerz schweiften, auch wenn ich immer wieder in meinen Erinnerungen versank, fühlte ich mich so frei wie seit langem nicht mehr.

Ich hatte das Gefühl endlich wieder einen freien Kopf zu haben. Es war als wäre eine zenterschwere Last von meinen Schultern genommen worden und ich wusste nicht, ob ich sie selbst einfach hinter mir gelassen hatte oder ob es Robin gewesen war, der sie mir abgenommen hatte.

Das entscheidende war jedoch, dass ich sie los war. Auch wenn es nur für ein paar Stunden war, ich war froh, dass mein Kopf ein wenig Ruhe genießen durfte. Das hatte ich gebraucht.

„Ich weiß ja nicht, wie lang die Runde noch ist, aber eventuell sollten wir demnächst mal überlegen umzudrehen..."

Ich schaute auf die Uhr und hob verwundert die Augenbrauen. Mir war nicht aufgefallen, wieviel Zeit bereits verstrichen war. „Hast recht. Vielleicht steht da hinter der Kurve, wie lang der Rundweg noch ist."

„Gucken schadet nicht.", stimmte Robin mir zu, doch als wir dort ankamen, fanden wir keine Infotafel vor. Stattdessen standen wir vor einem kleinen Wasserfall. Er war vielleicht drei Meter hoch und viel Wasser kam nicht herunter, aber es war trotzdem sehr schön.

„Geht es dir gut?", fragte Robin.

Verwundert sah ich ihn an. „Ja, klar, warum nicht?"

„Ich dachte vielleicht..." Er zeigte auf den Wasserfall.

„Ach was, nein. Ich liebe Wasser. Schon vergessen, ich kann stundenlang am See sitzen und einfach rausschauen. Ich kann es nur nicht berühren."

Er nickte, wirkte dabei aber etwas gedankenverloren. „Stimmt."

Ich runzelte die Stirn. Hatte er etwas anderes gemeint? Er wusste, dass ich kein Problem damit hatte dem Wasser nah zu sein. Das hatte er so oft miterlebt, aber warum dann seine Frage? Ich wollte nachhaken, aber stattdessen trat eine Frau auf uns zu. Sie war etwas älter als wir. Vielleicht Mitte zwanzig. Bei ihr war ein Mann, ungefähr im selben Alter. „Hey, ihr zwei. Wie geht es euch?"

„Gut?", antwortete ich mit gerunzelter Stirn.

„Sorry, das wirkt gerade etwas seltsam, oder?" Die Frau lächelte. „Ihr wohnt in demselben Hostel wie wir."

„Oh stimmt!" Sie hatte recht. Jetzt wo sie es sagte, erinnerte ich mich daran die beiden beim Frühstück gesehen zu haben. „Allerdings haben wir heute morgen ausgecheckt."

„Wirklich? Hmm, aber bleibt ihr noch ein bisschen hier in der Umgebung?"

Robin nickte. „Ja, bleiben wir."

„Perfekt!" Sie wechselte einen strahlenden Blick mit dem Mann. „Das trifft sich wunderbar."

„Okaaay...", antwortete ich gedehnt. „Warum?"

„Sorry." Sie wendete sich wieder mir zu, ihr Lächeln noch breiter als zuvor. „Also die Sache ist die, und ich weiß, dass mag vielleicht etwas seltsam klingen, aber wir haben das schon oft gemacht und es war für alle immer eine tolle Sache."

Robin und mein Blick trafen sich für einen Moment. Wo genau waren wir hier reingeraten?

„Also, die Sache ist die, dass wir hier ein Zelt haben."

Meine Augenbrauen wanderten noch weiter in die Höhe.

„Und zwei Schlafsäcke.", fuhr sie fort. „So eine halbe Stunde von hier ist eine Wiese, auf der man offiziell zelten darf. Da ist ein großes Schild und eine Schaukel, man kann es also nicht übersehen."

„Okay..."

„Wir würden euch gerne vorschlagen, dass wir euch das Zelt dalassen und ihr hier übernachten könnt. Das Wetter ist ideal zum Zelten! Es ist einfach traumhaft! Auf jeden Fall könnt ihr dann da übernachten. Es ist etwas spontan ja, aber spontane Sachen haben meistens das Potential zu unvergesslichen Erfahrungen zu werden, die man nie wieder missen möchte. Und ihr könnt uns die Sachen einfach morgen im Laufe des Tages zum Hostel bringen. Wenn wir nicht da sind, könnt ihr sie an der Rezeption abgeben. Wir haben das vorhin schon abgesprochen. Also nicht dass ihr sie zurückbringt, sondern dass sie eventuell von irgendjemanden abgegeben werden."

Ich warf Robin einen fragenden Blick zu. „Und was hättet ihr von dem ganzen?"

„Wir müssten weniger Gepäck mitnehmen, was uns wirklich gelegen kommt, weil wir einen anderen Weg zurücknehmen wollen, wo man an einer Klippe runterklettern muss.", erklärte der Mann. „Wir wissen, dass sich das ganze etwas seltsam anhört, aber wir haben das schon ein paar Mal gemacht, auch in anderen Ländern und es hat sich bisher für alle immer als eine tolle Erfahrung entpuppt."

„Ja, genau, aber wenn ihr nicht wollt, ist das natürlich in Ordnung!", fügte die Frau hinzu. „Fühlt euch bitte nicht genötigt. Es ist nur ein Vorschlag."

Ich schaute zu Robin. Er zuckte mit den Schultern und gab mir zu verstehen, dass die Entscheidung bei mir lag.

„In Ordnung. Warum eigentlich nicht."

„Wirklich? Großartig!" Die Frau setzte ihren Rucksack ab. „Wir haben wir hier auch noch zwei Dosen Chili sin Carne und dort auf dem Platz ist eine Feuerstelle. Da ist ein kleiner Schuppen. Da findet ihr alles, was ihr braucht, um Feuer zu machen."

Sie erklärten uns noch ein paar Sachen, aber ein paar Minuten später hatten wir alles aufgeladen und liefen weiter, bis wir den Platz mit der Schaukel sahen. 

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now