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Wir hatten uns an dem Abend darauf geeignet, dass sich keiner bedanken und dass sich keiner schuldig fühlen musste, auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass er das nicht glaubte. Genauso wenig wie ich. Doch obwohl wir beide eine Unwahrheit als Fazit gezogen hatten, war es vermutlich das ehrlichste und offenste Gespräch, das wir je geführt hatten.

Ein Teil von mir hatte gedacht, dass es ab dem Tag besser zwischen uns laufen würde und in gewisser Weise war es das auch, aber nicht so gut, dass es nicht immer noch komisch war. Das Schweigen war nicht mehr ganz so befremdlich, weil wir wussten, dass uns doch mehr verband, als wir in dem vergangenen Jahr gedacht hatten, aber dennoch schwiegen wir uns weiterhin häufig an. Irgendwie schafften wir es nicht ein gutes Gespräch zu führen. Unsere Antworten waren karg. Ich wusste nicht, warum, aber mir war aufgefallen, dass ich meistens auch nur mit wenigen Worten antwortete. Das wollte ich gar nicht, aber mir fiel nie mehr ein, was ich sagen sollte.

Meine Freunde hatten mir auch noch Nachrichten geschrieben, um mir frohe Weihnachten zu wünschen. Robin und Kim hatten ein Foto von den beiden mit Weihnachtsmannmützen vor ihrem Baum in unsere Gruppe geschickt. Oli hatte hingegen kein Foto von sich selbst geschickt, sondern eine ganze Reihe an Fotos, die er in seiner Heimatstadt geschossen hatte. Künstlerische Fotos der Weihnachtslichter. Es waren ganz andere Fotos, als die ich sonst von ihm kannte, doch genauso schön, nur... abstrakter würde ich sagen, aber vielleicht war das auch nicht der richtige Begriff. Kunst war nie etwas gewesen, in dem ich mich gut auskannte.

Ich hatte lange überlegt, was für ein Foto ich schicken sollte. Am Ende war es ein Foto von unserem Weihnachtsstrauch geworden. Sie hatten gelacht, aber waren Letzen Endes zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich eine gute Idee war und dass es sogar ganz gut aussah. Abgesehen davon, dass es eindeutig nachhaltiger war als sich jedes Jahr einen neuen Baum zu suchen, der gefällt wurde. Geschweige denn von der Problematik, die das Anbauen der vielen Nadelbäume mit sich brachte.

Es war also etwas besser geworden zwischen Christoph und mir, aber noch immer nicht gut und von außen betrachtet würde man wohl kaum einen Unterschied merken.

Viel bekam ich ihn aber ohnehin nicht zu sehen. Nach den Feiertagen fing er wieder an zu arbeiten und war so den ganzen Tag über nicht zuhause. Ich verbrachte die Zeit am See, las viel und kochte für uns zu Abend, was wir dann zusammen, aber hauptsächlich schweigend, aßen.

Einerseits fand ich es gut allein zu sein. Ich hatte mir zwar im Internat immer wieder, eigentlich täglich, Zeit für mich allein rausgenommen und war zum See oder wo anders hingegangen, aber es war nicht das gleiche. Jetzt hatte ich wirklich wieder Zeit für mich ganz allein. Viel Zeit allein.

Es war seltsam. Vor einem halben Jahr hätte ich nie gedacht, dass ich es mit weniger Zeit allein überhaupt aushalten konnte und jetzt fühlte es sich seltsam an, so viel Zeit allein zu verbringen.

Insbesondere sorgte das dafür, dass ich mir alle möglichen Horrorszenarien vorstellte und meine Sorgen darüber, dass meine Freundschaft zu Kim und den anderen nie wieder so sein würde, wie vorher.

Hatte ich alles falsch gemacht? Müsste ich es doch irgendwie versuchen? Müsste ich versuchen es zu ermöglichen, dass ich mit Kim trainieren könne? Aber wie? Ich traute mich nicht einmal in die Nähe eines Schwimmbades. Wie sollte ich da mit Kim trainieren? Ich wusste nicht mal genau, wo die Schwimmhalle im Internat war. Angeblich war die irgendwo ganz hinten bei den Wohnheimen der Kleinen, aber ich hatte mich bisher immer davon ferngehalten. Der Gedanke daran das Chlor zu riechen, löste bei mir Übelkeit aus. Wie also sollte ich es schaffen mit Kim zu trainieren?

Wäre es warm und sie könnte im See schwimmen, würde ich es vielleicht noch irgendwie schaffen. Das traute ich mir zu. Es wäre nicht leicht, aber das hätte ich schaffen können. Die Seen lösten bei mir nicht das gleiche aus. Zumindest nicht, wenn ich sie nicht betrat. Ich brauchte es ja sogar. Ich liebte es in der Nähe zu sein. Trotzdem wäre es nicht das gleiche Zeit am Ufer eines Sees zu verbringen und jemanden vom Ufer eines Sees aus Schwimmtraining zu geben. Das wäre deutlich schwieriger für mich, aber das hätte ich irgendwie durchziehen können. Für Kim.

Aber wir hatten keinen Sommer. Es war Winter. Tiefster Winter. Was es unmöglich machte das Training in den See zu verschieben. Stattdessen müsste ich, sollte ich mit Kim trainieren, ein Schwimmbad betreten, neben einem Becken stehen, Leute beim Schwimmtraining zusehen und mich selbst daran erinnern, wie es war zu schwimmen, um Kim Ratschläge geben zu können.

Für einen normalen Menschen klang das wohl alles sehr einfach. Für mich klang es unmöglich.

Wie sollte ich meine Angst überwinden das zu tun? Wie sollte ich den Schmerz ertragen, der gezwungenermaßen damit einher gehen würde?

So unmöglich es auch erschien, die Stimme in mir, die mich anschrie, dass ich das irgendwie umsetzten müsse, um Kim zu helfen, aber auch um unsere Freundschaft zu erhalten, wurde immer lauter.

Sie zwang mich ständig daran zu denken. Mir über Wege den Kopf zu zerbrechen. Wege, die allesamt unmöglich erschienen. 

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now