125

74 17 7
                                    

Wir hatten nicht viel geredet während der Fahrt zum Friedhof. Robin ließ mir die Freiheit, die ich brauchte. Er schien genau zu wissen, wann ich eine Berührung brauchte und wann nicht. Er schien es manchmal besser zu wissen als ich selbst. Wir liefen lange durch die Gänge. Es war ein bedrückendes Gefühl an jedem Grab vorbeizulaufen und die Namen zu lesen, aber mir blieb keine andere Wahl. Um diese Uhrzeit war noch keiner hier, den ich fragen könnte und ich wusste nicht, wo sie begraben waren. Ich war nicht hergekommen. Wahrscheinlich hatten mich damals alle dafür verurteilt. Wer geht nicht auf die Beerdigung seiner Familie? Seiner Eltern und seines Bruders? Wer tat so etwas? Einfache Antwort: ich tat so etwas. Doch warum? Warum war ich nicht gekommen. Ganz klar, weil ich nicht konnte, aber würde das jemand verstehen? Konnte jemand, der nicht alles verloren hatte, verstehen, wieso es für mich unmöglich war dort hinzugehen. Ich hatte nie gefragt. Ich hatte mit niemanden über die Beerdigung geredet. Ich wusste, dass sie verbrannt worden waren und ihre Asche hier irgendwo auf dem Friedhof vergraben worden war. Die Frage war nur, wo.

Es war als hätte ein Teil von mir die Namen schon gesehen, bevor mein Bewusstsein das realisieren konnte. Kurz vor dem Grabstein blieb ich stehen. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Für einen tiefen Atemzug schloss ich die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, schaute ich auf die steinerne Platte, die im Boden eingelassen waren. Der Stein auf dem die Namen meiner Eltern und meines Bruders eingraviert waren. Wie in Trance machte ich zwei weitere Schritte darauf zu und setzte mich vor dem Grab auf den Boden.

Robin legte seine Hand auf meine Schulter, beugte sich zu mir runter und gab mir einen Kuss auf den Haaransatz. „Ich bin gleich da vorne, wenn du mich brauchst."

Ich sah nicht, wohin er zeigte, aber ich wusste, dass er in der Nähe bleiben würde.

Für einige Zeit saß ich nur da. Ich tat gar nichts, ich dachte nicht einmal. Doch dann begann ich zu lächeln. Ich lächelte einfach. Ich spürte, wie die Tränen sich in meinen Augen sammelten und dann lachte ich. Ich lachte wirklich. Ich lachte, während die Tränen über mein Gesicht liefen. Ich griff nach dem Ring an meiner Kette. Ich hatte sie immer getragen, seitdem ich das Krankenhaus verlassen hatte. Der Arzt hatte mir den Ring gegeben. Er war in einer Plastiktüte eingepackt gewesen. Ich hatte zuerst nicht gewusst, was ich damit sollte. Ich hatte nicht verstanden, warum er mir so vertraut schien und doch so fremd, aber dann begriff ich es. Ich kannte den Ring. Ich hatte ihn schon so oft gesehen, aber niemals hatte ich den Ring gesehen, wenn er nicht an dem Finger meiner Mutter war. Es war ihr Ehering gewesen. Der Ring, der schon seit Generationen weitergegeben wurde. Es gab die Legende in meiner Familie, dass dieser Ring für die Ewigkeit war. Obwohl das Paar den Ring nur einige Jahre lang trug, bevor die nächste Ehe der Familie geschlossen wurde und der Ring seinen Besitzer wechselte, hatte noch keine Ehe geendet, die mit ihm geschlossen worden ist. Es gab keine Scheidungen in der Familie meiner Mutter. Kein böses Blut. Alle liebten sie sich bis zum letzten Atemzug. Zumindest erzählte man sich das. Als mein Großvater Manu und mir damals die Geschichte erzählt hatte, hatten wir uns gefragt, ob das wahr war oder ob der Grund dafür nicht etwa war, dass die Beziehungen alle funktioniert hatten, sondern nur, dass es früher nicht üblich war sich scheiden zu lassen. Das war schließlich mehr ein neues Phänomen gewesen und wenn auch meine Familie früher groß gewesen war, war sie in den letzten Generationen sehr viel kleiner geworden. Nur deshalb hatte meine Mutter den Ring so lange getragen und nur deshalb hatte ich jetzt den Ring, auch wenn es keine Beziehung gab, die den Ring verdiente.

Nach einer Weile, ich wusste nicht wie lange ich dort gewesen war, strich ich über den glatten Stein. „Ich liebe euch und ich werde euch immer lieben." Mit diesen Worten stand ich auf lief zu Robin, der etwas entfernt mit geschlossenen Augen auf einer Bank lag, doch kurz bevor ich ihn erreichte, schlug er sie wieder auf und lächelte mich an. Seine schwarzen Augen musterten mich voller Sorgen, doch er schien zu begreifen, dass es mir gut ging, denn sein Lächeln wurde breiter.

„Ich bin bereit zurückzufahren."

Dieses Mal ließ ich ihn dem vorgeschlagenen Weg folgen, doch als wir dort ankamen, bat ich ihn zu halten. Wieder tat er es, ohne zu zögern. Ich stieg aus und mit langsamen Schritten lief ich auf die kleine Brücke. Robin folgte mir und legte seinen Arm um mich.

„Sie haben ein Gelände hingebaut.", murmelte ich. „Und Straßenlaternen."

„Sind wir..."

„Das ist die Brücke gewesen. Die Brücke, auf der es passiert ist.", bestätigte ich. „Hier hat sich mein Leben verändert. Hier ist es geschehen."

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now