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Kim begleitete die Jungs zur Krankenstation, während ich nach einem kurzen Abstecher in mein Zimmer, um mir etwas anzuziehen, wieder zurück zum See lief und mich auf dem Baumstamm setzte, der zu meinem Zufluchtsort geworden war.

Von dort hörte ich das Lachen meiner Mitschülerin, doch sehen konnte ich sie nicht.

„Tja Manu...", flüsterte ich. „Ich gebe mir Mühe. Das weißt du hoffentlich." Ich griff nach einem flachen Stein, der auf dem Boden gelegen hatte, und ließ ihn auf der Wasseroberfläche springen. Er hatte mir vor langer Zeit beigebracht, wie das ging. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde. Jedes Mal, wenn ich denke, dass ich es hinkriegen kann, kommt Robin und zerstört mein Glauben. Ich weiß nicht einmal, wieso. Ich weiß nicht, warum ich so wütend auf seine Kommentare reagiere. Manchmal gehen sie wirklich etwas zu weit, aber eigentlich bin ich ja gar nicht so empfindlich. Es ist nur... Ich weiße es nicht. Er macht mich so wütend."

Ich lehnte mich nach hinten und schaute nach oben gen Himmel. Vielleicht war er ja oben und schaute mir zu, falls es so etwas wie den Himmel überhaupt gab. Eigentlich glaubte ich nicht daran, aber wer konnte es schon mit Gewissheit sagen? Ich hoffte aber inständig, dass es da etwas gab. Ich wünschte mir, dass Manu und meine Eltern an einen besseren Ort waren. „Ich wünschte mir so sehr, dass du hier wärst. Ich vermisse dich jede Sekunde. Ich liebe dich, Manu." Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Damals war alles so einfach gewesen, als er an meiner Seite war. Langsam schüttelte ich den Kopf. Ich musste aufhören, so etwas zu denken. Ich musste endlich nach vorne sehen. Stark sein. Auch wenn ich das schon einmal beschlossen hatte, irgendwann musste ich es auch umsetzen.

Einige Zeit lang saß ich einfach nur da und versuchte an nichts zu denken.

„Darf ich mich zu dir setzen?"

„Klar.", erwiderte ich und rutschte noch ein wenig zur Seite, damit Oli mehr Platz auf dem Baumstamm hatte. Er sah noch immer ramponiert aus, aber der Verband auf seiner Nase verriet, dass er zumindest eine professionelle Behandlung erhalten hatte.

„Ich wollte mit dir reden.", eröffnete er mir nach wenigen Sekunden der Stille.

Ich hob die Brauen und schaute ihn an. „Ach ja? Worüber?"

„Kimmi hat mir von eurem Gespräch erzählt. Dass du dich gefragt hast, wer Elisa ist."

Schnell schüttelte ich den Kopf. „Ich hab sie nicht nach ihr gefragt! Wirklich nicht! Du musst es mir nicht erzählen! Es geht mich nichts an!"

Kurz lachte er auf und lächelte mich an. Dabei legte er seine Hand auf meinen Oberarm. „Ich weiß, Elle. Ich weiß, dass du nicht gefragt hast und war mir auch sicher, dass du mich nicht nach ihr fragen würdest, aber Kimmi hat die Wahrheit gesagt. Du hättest mich ruhig fragen können. Wir kennen uns noch nicht lange und ich vertraue dir. Es ist ja auch kein Geheimnis, aber trotzdem kein Thema, über das ich gerne spreche."

„Deswegen musst du mir das nicht erzählen! Wirklich nicht, es ist alles okay! Ich erwarte nicht, also, du musst mir nichts erzählen!"

„Ich weiß, dass ich nicht muss, aber ich möchte es.", erklärte er mir. „Ja, ich spreche eigentlich nicht gerne darüber, aber ich möchte, dass du es weißt. Die meisten Leute im Internat haben irgendwas in ihrem Leben durchgemacht, über das sie nicht gerne reden. Die meisten sind genau deswegen hier. Die wenigsten hier kommen aus einem perfekten Leben. Das gehört dazu in einem Internat. Ich meine, das heißt nicht, dass es bei allen so ist, aber bei den meisten ist es eben so, dass sie entweder eine Erfahrung gemacht haben, dass sie von zuhause wegmussten oder dass die Eltern sich aus irgendeinem Grund nicht um sie kümmern können. Mein Grund, der Grund warum ich auf das Internat war, war Elisa. Ich hab es nicht mehr ausgehalten zuhause." Er schloss seine Augen. „Elisa war meine Nachbarin. Wir spielten von klein auf miteinander. Ihre Eltern und meine waren auch seit der Grundschule die besten Freunde gewesen und waren absichtlich in nebeneinanderliegende Häuser gezogen, daher spielten wir schon immer miteinander. Seit Elisas Geburt, sie kam zwei Jahre nach mir zur Welt. Die Jahre vergingen und wir wurde die besten Freunde. Sie war wie eine kleine Schwester für mich. Dieses Gefühl beruhte nicht auf Gegenseitigkeit, wie ich später herausfand. Sie hatte wohl eine Schwärmerei für mich entwickelt... aber das ist ein anderes Thema. Wir waren unzertrennlich, aber das Problem war, dass sie abgesehen von mir auch keine anderen Freunde hatte. Es war jetzt nicht so, dass ich beliebt war. Ganz und gar nicht, aber es gab eben ein paar Freunde bei mir in der Klasse. Elisa hatte das nicht. Nur ich. In ihrer Klasse war sie ganz allein. Nicht nur, dass sie keine Freunde hatte, es war viel mehr als das. Es war nicht einfach so, dass die anderen sie ignorierten, sie mobbten sie. Mittlerweile weiß ich, dass ich das gesamte Ausmaß nie gesehen hatte, aber ich hatte immer versucht sie zu beschützen, aber ich konnte nicht immer da sein. Ich war nicht bei ihr in der Klasse. Ich konnte nicht immer bei ihr sein. Eines Tages dann, vor ein paar Jahren, hat sie dann..." Er stockte und wendete sein Gesicht ab. „Hat dann... Sie hat versucht sich umzubringen."

„Oh Gott!", stieß ich aus und schlug mir die Hand vor dem Mund. „Oh Oli, es tut mir so leid!"

Ich beugte mich zu ihm und nahm ihn in den Arm. Behutsam strich ich ihm über den Rücken.

Als er sich löste, hatten sich einige Tränen in seinen Augen gesammelt. „Danke." Er schnaufte und schüttelte den Kopf. „Ich war es, der sie gefunden hat. Sie war noch am Leben. Es schien eigentlich alles gut gegangen zu sein, aber dann im Krankenhaus, am nächsten Tag, erlitt sie einen Schlaganfall. Die Ärzte wussten nicht genau, was die Ursache war, aber sie gehen davon aus, dass es durch irgendeine Wechselwirkung der ganzen Tabletten war, die sie geschluckt hatte. Sie hat überlebt, aber sie... sie ist nicht mehr sie. Sie reagiert nicht mehr. Ist nicht mehr ansprechbar. Sie haben alles probiert, aber die neuronalen Schäden waren zu groß."

Ich nahm seine Hand und drückte sie. Er warf mir ein kurzes schwaches Lächeln zu. Auch mir waren die Tränen gekommen. Kein Wunder, dass Oli empfindlich darauf reagierte, wenn jemand Elisa erwähnte.

„Das Problem ist, dass ich dafür verantwortlich bin. Ich bin Schuld an dem was passiert ist."

„Was?", fragte ich und schüttelte gleich den Kopf. „Das kann ich mir nicht vorstellen."

„Es ist aber so. Am Tag als es passierte, hatte ich versucht ihr klar zu machen, dass es so nicht weiterging. Ich meinte sie müsse endlich für sich selbst einstehen. Dass sie lernen musste sich zu wehren. Dabei bin ich etwas fies geworden." Er stoppte kurz, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. „Deshalb war ich zu ihr gegangen als ich sie fand. Ich wollte mich entschuldigen. Da war es aber schon zu spät. Ich bin schuld an ihrem Selbstmordversuch und damit auch an den Folgen, die sich daraus ergeben haben..."

Ich schüttelte den Kopf: „Das ist nicht wahr. Du bist nicht schuld. Du wolltest ihr doch nur helfen. Sie musste lernen sich zu wehren. Du konntest sie nicht vor allem beschützen. Das hast du selbst gesagt. Es war nicht deine Schuld!" Ich legte meine Hand auf sein Gesicht und zwang ihn mich anzusehen. „Es war nicht deine Schuld. Oli, glaub mir bitte. Du trägst nicht die Schuld an ihrem Schicksal."

Ein trauriges Lächeln, ein Lächeln, dass seine Augen nicht erreichte, stahl sich auf sein Gesicht. „Das haben mir schon so viele gesagt, aber trotzdem... Ich kann meine Schuldgefühle nicht abschütteln."

Ich verstand ihn nur zu gut. Besser als er wahrscheinlich annahm. Mir hatten auch massenhaft Leute gesagt, dass ich keine Schuld trug an dem Tod meiner Eltern und meines Bruders, aber auch ich war davon überzeugt. Vielleicht lagen wir ja beide falsch. Rational betrachtet waren weder er noch ich dafür verantwortlich, aber das änderte auch nichts an dem Gefühl die Schuld zu tragen. Ob gerechtfertigt oder nicht. Es war egal, was die anderen sagten. Es fühlte sich so an als wäre man schuld und das war das einzige, das dabei zählte. 

Greatest Love but Greatest FearNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ