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Christoph hatte mir, zu meiner Überraschung, geschrieben, um zu fragen, ob ich in den Pfingstferien zurückkommen würde. Er selbst sei die meiste Zeit auf Geschäftsreise, aber zwischendurch könne er ein paar Tage nachhause, wenn ich da sein sollte. Ich antwortete ihm, dass das nicht notwendig sei, weil meine Freunde und ich überlegt hatten einen kleinen Trip zu unternehmen, weil sie über die Ferien auch im Internat blieben. Eine dreiste Lüge, denn keiner blieb im Internat. Auf jeden Fall keiner meiner Freunde, aber auch sonst hatte ich von niemanden mitbekommen, dass er bleiben würde. Wobei ich davon ausging, dass zumindest ein paar blieben. Es war unwahrscheinlich, dass ich die Einzige war.

Außerdem wollte ich wirklich einen kleinen Ausflug unternehmen. Zumindest hatte ich mir das vorgenommen, auch wenn ich niemanden davon erzählt hatte.

Das hatte mehrere Gründe. Erstens, weigerte sich ein Teil von mir das zu erzählen, weil ich mich in dem Fall nicht mehr heimlich drücken könnte. Etwas, was durchaus im Bereich des Möglichen lag. Mehr noch: sogar im Bereich des Wahrscheinlichen. Zweitens, würde mein Vorhaben viele Fragen aufwerfen. Fragen, die ich nicht beantworten wollte. Drittens, wollte ich Niemanden das Gefühl vermitteln, dass ich ihm nicht vertraute, weil ich eben diese Fragen nicht beantworten wollte.

Also behauptete ich meinen Freunden gegenüber, dass ich im Internat bleiben würde und die Gegend etwas erkunden wollte. Hier gäbe es ja schöne Wanderwege.

Oli und Kim fuhren zusammen an die Nordsee. Robin wollte nachhause fahren.

Ich verabschiedete mich morgens von ihnen und ging dann mit einem Buch zum See. Dadurch, dass schon so viele gegangen waren oder zumindest dabei waren zu gehen, war es selbst an der Badestelle angenehm leer und ruhig.

Perfekt, um in einer fremden Welt zu versinken, während man den Vögeln und dem Wasser lauschte.

Ich verbrachte den ganzen Tag draußen. Genoss die Ruhe und in gewisser Weise auch die Einsamkeit. Egal wie sehr ich meine Freunde liebte, manchmal tat es einfach gut allein zu sein.

Vielleicht würde ich mich in wenigen Tagen fragen, was nur falsch bei mir gewesen war, weil ich es nicht mehr allein aushielt, aber gerade jetzt ging es mir gut damit.

Obwohl ich gleichzeitig merkte, dass ich in ein dunkles Loch fiel. Es war nicht tief, ganz sicher nicht so tief wie es früher war, aber trotzdem war es da. Die Dunkelheit wollte mich umhüllen und mich nach unten ziehen.

Wenn ich allein war, dachte ich viel mehr über das nach, was geschehen war, wodurch ich ein der Trauer, dem Schmerz und den Schuldgefühlen versank. Es gab niemanden, der mich regelmäßig zurück ins Leben brachte. Ich war allein mit meinen Gedanken.

Was einerseits gut war, weil es sich notwendig anfühlte, aber gleichzeitig furchtbar. Ich wollte nichts davon vergessen, aber gleichzeitig wollte ich nichts davon wissen. Ich wollte die Bilder nicht in meinem Kopf sehen. Wollte den Unfall nicht immer wieder von vorne erleben. Einmal hatte gereicht. Mehr als gereicht.

Mittlerweile unentschlossen, ob ich froh war allein zu sein oder ob ich doch hätte zu Christoph fahren sollen, legte ich mich schlafen.

Doch hätte es einen Unterschied gemacht? Wäre ich zu Christoph gefahren, wäre ich dort allein gewesen. Es war nicht da. Adrian auch nicht, denn an der Uni gab es solche Ferien nicht. Wäre es nicht noch viel schlimmer gewesen dort allein zu sein? An dem Ort, den die Leute mein zuhause nannten, obwohl es sich nicht danach anfühlte?

Wohl kaum. Es war richtig gewesen hier zu bleiben, außerdem war der Plan ja weg zu gehen. Wenn ich mich nicht davor drückte, würde ich nicht zwei Wochen allein im Internat bleiben, sondern ich würde nachhause fahren.

An den einzigen Ort, der sich jemals nach einem Zuhause anfühlen würde.

Auch wenn ich mich mittlerweile vor diesem Ort fürchtete.

Es war mein zuhause und es wurde Zeit, dass ich dorthin zurückfuhr. Sei es nur für eine kurze Zeit.

Ich musste mich meiner Angst stellen.

Es war mein Zuhause. 

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now