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Als am Mittwoch meine letzten Schulstunden ausfielen, weil der Lehrer auf einer Fortbildung war, entschloss ich mich endlich raus zu gehen. Seit dem Wettbewerb war das Verlangen in mir gewachsen das Schulgelände zu verlassen. Ich musste einfach raus. Allein. Ich hatte mir Zeit für mich allein genommen, aber das reichte nicht. Es gab keinen Ort, nicht einmal im Wald am See, an dem ich wirklich das Gefühl hatte allein zu sein. Es könnte jederzeit jemand kommen und mit mir sprechen wollen. Und das war viel schlimmer, als tatsächlich nicht allein zu sein, weswegen ich in die Stadt fahren wollte. Dort waren zwar mehr Menschen, aber keiner von ihnen kannte mich und somit war ich allein. Allein unter Menschen.

Ich hatte Kim eine Nachricht auf ihrem Bett hinterlassen, in der stand, dass ich in die Stadt gefahren war, um nach einem Geburtstagsgeschenk für Oli und ein neues Handy für mich selbst zu suchen.

Denn im Gegensatz zu mir, hatte mein Handy den Sprung ins Wasser nicht überlebt. Mir war nicht aufgefallen, dass mir mein Handy aus der Hosenasche geglitten war und auf dem Beckenboden lag, bevor Kim es entdeckt hatte, als sie selbst noch einmal schwimmen musste und es rausgeholt hatte. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte es schon den Geist aufgegeben. Da hatte es auch nicht mehr geholfen es 48 Stunden in Reis zu stellen, ohne zu versuchen es anzuschalten.

Das Handy war hinüber, aber ich hing sowieso nicht dran. Ein Gerät konnte man schnell ersetzen. Es waren die Menschen, bei denen man das nicht konnte.

Die Frau in dem Geschäft zählte die Vorteile verschiedener Modelle auf, nachdem ich einfach auf eins gezeigt hatte, das meinem alten ähnlich gesehen hatte, und sagte, dass ich das gerne haben würde.

Sie wollte mir nicht glauben, dass es mir vollkommen egal war, ob das andere Handy eine etwas bessere Kamera hatte und dass der Lautsprecher einen kleinen wenig besser war als der des ersten, aber etwas schlechter als der des zweiten wäre.

Also hörte ich mir ihre Verkaufsargumente an, kaufte aber am Ende doch das Modell, was ich von Anfang an gemeint hatte. Es war tatsächlich das neuere Modell von meinem eigenen gewesen und da ich damit sehr gut gefahren war, bis es nun nicht mehr anging, war ich damit mehr als zufrieden.

Schwieriger war es da schon mit dem Geschenk für Oli. Ich war in verschiedene Geschäfte reingegangen und hatte mich sogar noch einmal mit der Frau aus dem Handyladen unterhalten und nach Gadgets für Fotografie erkundigt, doch alle, die ich nicht entweder zu albern fand oder von denen ich glaubte, dass Oli die schon besaß, waren sie zu teuer.

Es lief letzten Endes darauf hinaus, dass ich auf einem Schild vor einer Bücherei stehen sah, dass ein Fotograf eine kleine Ausstellung drin hatte.

Zu meinem Glück war eben dieser Fotograf sogar anwesend. Es schien der letzte Tag der Ausstellung zu sein und er unterhielt sich mit einigen Besuchern und signierte das Buch, dass er rausgebracht hatte, in dem es um seine Weltreise ging und die Abenteuer dokumentierte, die er auf der Suche nach den besten Fotos erlebt hatte.

Die Fotos waren großartig. Auf dem ersten Blick schienen sie nicht zueinander zu passen. Mal waren es Aufnahmen von Tieren, mal Landschaften, andere zeigten Menschen und andere Nahaufnahmen von Pflanzen. Doch als ich einen etwas besseren Einblick bekommen hatte, wurde mir klar, was diese Fotos verband. Sie waren echt. Es waren Momentaufnahmen. Kein Foto war gestellt, was man am besten bei den Menschen sah. Selbst ein ungeschultes Auge, wie meine, konnte einen Unterschied merken zwischen einem natürlichen und einem gestellten Lachen. Oder echte Trauer von gespielter.

Der Fotograf, Marius Koch, hatte sich neben mich gestellt und schaute mit mir gemeinsam auf sein Foto.

Es zeigte einen jungen Mann. Er hatte seine Hände in den Haaren vergraben und schaute hinab zu dem Strauß Blumen, der vor ihm auf dem Boden lag. In seinen Augen schimmerten Tränen, aber trotzdem lächelte er.

Beides war echt. Die untere Hälfte seines Gesichtes schien so glücklich, doch in seinen Augen stand Trauer.

„Was denken Sie, was geschehen ist?", fragte er mich nach einer Weile.

Kurz warf ich ihm einen Blick zu, richtete meine Aufmerksamkeit aber wieder zurück auf das Foto. „Er freut sich über etwas, aber zur selben Zeit trauert er. Vielleicht hat er etwas oder eher jemanden", korrigierte ich mich, als ich an die Blumen dachte. „verloren, aber ist zur selben Zeit glücklich über die neuen Möglichkeiten. Vielleicht hat er ein Angebot für seinen Traumjob bekommen, für den er aber umziehen müsste, doch dadurch ist seine Beziehung zu Bruch gegangen, weil er oder sie nicht umziehen wollte. Er freut sich auf die Zukunft, trauert aber um die Vergangenheit."

„Das könnte gut sein. Sie haben ein gutes Auge."

„Ich weiß nicht so recht..."

„Das gehört zu meinen liebsten Fotos. Es zeigt wie komplex Gefühle sein können. Es gibt nicht nur das eine oder das andere. Man kann beides fühlen zur selben Zeit, genau wie Sie es gerade beschrieben haben. Ich habe die Frage heute, aber auch schon vorher, an mehrere Leute gestellt." Er lächelte mich an. „Sie sind die Erste, die so antwortet."

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now