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Katharina erhob sich von ihrem Stuhl. „Ich geh wieder rein, um die Beilagen zu beenden, aber später reden wir auf jeden Fall weiter. Ich möchte so gerne hören, wie dein Leben jetzt aussieht."

Ich biss die Zähne zusammen, so fest, dass es schmerzte. Antworten vermochte ich nicht.

„Kann ich dir helfen?", hörte ich Robin fragen, doch seine Stimme klang meilenweit entfernt.

„Ach nein, nicht nötig. Vielen Dank, aber ihr seid unsere Gäste. Bleibt nur hier!"

„Ich werde ihr helfen.", erklärte Achim und stand ebenfalls auf. „Doch lass mich zuerst etwas Musik anmachen."

Meine Lippe bebte und ich kniff die Augen zu, in der Hoffnung, ich könne die Tränen so verhindern. Robin zog mich an sich und strich mir sanft über den Rücken. „Du machst das großartig."

„Das ist doch nicht wahr. Das war furchtbar."

„Du gibst dein Bestes und das ist genug. Mehr als genug."

„Danke, dass du hier bist.", murmelte ich gegen seine Brust.

„Ich werde immer hier sein." Ich spürte, wie er mir einen Kuss auf die Haare gab. „Ich werde immer für dich da sein."

Einige Minuten blieben wir genauso stehen, bis ich erneut begann zu sprechen: „Es ist seltsam hier zu sein. Das alles sieht aus wie damals und doch so vollkommen anders. Ich... Sie sind weggezogen, noch vor dem Unfall. Das heißt, es ist sogar noch länger her, dass ich hier war, aber ich erinnere mich an alles. Es sieht so gleich aus, aber es fühlt sich trotzdem alles fremd an."

„Das ist ganz normal. Du bist nicht mehr dieselbe Person, die du damals warst. Nichts kann mehr genauso sein wie früher."

Ich drehte mich in seinen Armen um, sodass ich in den Garten hinein sah, während er hinter mir stand und seine Arme um mich geschlungen hatte. „Dieser Garten glich für mich dem Paradies... als Kind. Es gab so viele Möglichkeiten. So viele schöne Stunden haben wir hier verbracht. Wir waren zwar nie religiös gewesen, aber an Ostern sind wir immer hierhergekommen. Unsere Eltern hatten hier Schokolade versteckt und wir konnten sie suchen. Der Garten ist so groß, es gibt so viele Verstecke. Wir waren stundenlang beschäftigt alles zu finden. Es war wunderschön."

„Da bin ich mir sicher."

Ich wollte weitererzählen, aber Schritte hinter uns und dann eine klare, melodische Stimme, ließ mich erstarren. Es war Jahre her, dass ich diese Stimme gehört hatte, aber es gab keinen Zweifel zu wem sie gehörte: „Oh hi, sorry, ich wusste nicht, dass wir Besuch haben. Ich konnte meinen Schlüssel gerade nicht finden, aber hab die Musik gehört und dachte, dann komm ich direkt in den Garten."

Robin löste sich von mir, blieb aber weiterhin dicht bei mir. „Hey, ich bin Robin."

„Oh sorry, ja! Ich bin Lisa. Freut mich dich kennenzulernen."

„Ganz meinerseits. Wie war das Zelten?"

„Oh, sie haben davon erzählt? Es war toll, obwohl es zwischendurch geregnet hat, aber es war ein toller Ausgleich zum Unistress."

„Das kann ich mir vorstellen."

Ich konnte ihren Blick auf mir spüren, aber ich schaffte es nicht mich zu ihr umzudrehen. Ich war nicht bereit sie zu sehen.

„Und wie heißt deine Freundin?", fragte Lisa.

Robin griff nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit den meinen. Einige Atemzüge verstrichen, keiner sagte ein Wort und dann, ganz langsam, drehte ich mich um, den Blick auf meine Fußspitzen gerichtet.

Mit einem dumpfen Laut fiel Lisas Tasche, die sie eben in der Hand gehalten hatte, auf den Boden. Sie bewegte sich nicht, genauso wenig wie ich.

Mit aller Kraft zwang ich mich den Blick zu heben.

Sie war genauso hübsch wie damals. Ihre blonden Locken, die Sommersprossen auf ihrer Nase. Unsere Blicke hielten sich gefangen. Ich konnte in ihren Augen so viele Gefühle sehen, wie sie auch in mir tobten. Schmerz, Trauer, Fassungslosigkeit, Bedauern, Wut aber auch irgendwo Freude, die andere wiederzusehen. Lisa hatte mir so viel bedeutet. Sie war eine wunderbare Freundin für mich gewesen, mehr noch: quasi eine Schwester.

„Bist du es wirklich?", fragte sie leise.

Wie automatisiert nickte ich. Die Tränen, die ich bisher zurückgehalten hatte, traten nun doch zum Vorschein und trotz meiner verschwommenen Sicht, konnte ich noch sehen, wie auch Lisa weinte, bevor sie auf mich zukam und mich umarmte.

Es war zur selben Zeit eine Erleichterung und ein Schlag in die Magengrube. Es fühlte sich gut an und doch hatte ich das dringende Bedürfnis alles in mir auszuspucken.

Mein Herz konnte sich nicht für eins entscheiden. Sollte es ein wohliges Gefühl durch meinen Körper schicken oder sollte es verkrampfen bis zum Stillstand?

„Lisa, du bist ja zuhause!", rief Katharina, die wohl gerade zu uns in den Garten getreten war.

„Ich bin gerade angekommen.", antwortete diese, während sie sich von mir löste.

Sofort suchte ich nach Robins Hand.

„Geht es dir gut?", flüsterte er mir zu, während Lisa ihre Eltern begrüßte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn ich das wüsste..."

Doch viel zu früh, drehte sich Lisa wieder zu mir um. „Was machst du hier? Seit wann bist du hier? Warum bist du nicht schon früher wieder hergekommen? Wo wohnst du?"

Es wurden immer mehr Fragen. Auch Fragen von Achim und Katharina kamen dazu, aber ich war nicht fähig zu antworten. Mittlerweile hörte ich die Fragen auch gar nicht mehr. Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren überschallte ihre Worte. Meine Knie drohten unter mir nachzugeben. Die Bilder in meinem Kopf überschlugen sich und wurden zu einer undurchdringlichen Masse aus Schmerz.

Nicht in der Lage einen anderen Ausweg zu finden, riss ich mich von Robin los, auch wenn es das einzige gewesen war, was mir Trost und Stärke zu geben vermochte, und rannte in den Garten.

Ich hatte kein konkretes Ziel. Ich war einfach gerannt, doch es überraschte mich nicht, dass mein Körper mich ausgerechnet zum Wasser geführt hatte.

Ich hyperventilierte, konnte mich aber auch nicht beruhigen. Die Tränen hinterließen eine heiße Spur auf meinen Wangen. Mein Körper zitterte, er bebte, er... Es war ein Wunder, dass er nicht in seine Einzelteile zerbrach.

Starke Arme zogen mich in eine feste Umarmung. Ich drückte mich an Robins Brust und ließ mich einfach von ihm halten. Ich wusste nicht wie lange wir da standen, es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, doch irgendwann verlangsamte sich mein Puls wieder, das Zittern ließ nach und meine Gedanken wurden klarer.

Ich hob meinen Kopf und sah zu ihm hinauf. Er lächelte mich an und doch war in seinen Augen nur Sorge zu sehen. „Willst du gehen?"

Langsam schüttelte ich den Kopf und bedeutete ihn sich mit mir gemeinsam auf den Boden zu setzen.

Meinen Kopf legte ich auf seiner Schulter ab und er legte seinen Arm um mich.

„Wieso haben sie das getan?"

„Sie hätten es so nicht machen sollen. Sie hätten dich ganz sicher nicht derart überfallen dürfen, aber sie wollten wissen, wie dein Leben jetzt aussieht. Du scheinst ihnen wirklich wichtig zu sein."

Ich nickte, auch wenn das nur einen Teil meiner Frage abdeckte, doch vom anderen Teil, von dem Teil, der noch viel mehr schmerzte, wusste Robin nichts. Also schwieg ich.

„Können wir reden?", hörte ich Lisa hinter mir fragen. „Ich möchte dich um Verzeihung bitten."

Ich schluckte und blickte zu Robin. Er machte keine Anstalten sich zu bewegen, doch war bereit zu gehen, wenn ich ihm zu verstehen gab, dass das für mich in Ordnung war.

„Danke." Ich drückte kurz seine Hand. „Ist okay."

„Sicher?"

Ich nickte und sah zu, wie er aufstand und sich von uns entfernte. 

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now