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Die erste Nachricht lautete: „Ich wollte nur fragen, wie es dir heute geht. Christoph."

Die zweite Nachricht lautete: „Melde dich doch, bitte. Christoph."

Okay... Das war gut? Ungewöhnlich, aber gut, oder? Er wollte wissen, wie es mir ging. Nicht darüber reden, wie es ihm ging. Das hieß es war nichts passiert, oder?

Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnten, hatte mein Finger bereits auf Anrufen geklickt.

Es dauerte nur eine Sekunde bis er ranging: „Elena?"

„Hallo."

„Wie geht es dir?"

„Gut?" Es hatte keine Frage sein sollen, aber selbst in meinen eigenen Ohren klang es danach. Ich wusste immer noch nicht, was das alles zu bedeuten hatte.

„Sicher?"

„Christoph? Was ist los?", fragte ich deshalb. „Ist bei dir alles in Ordnung?"

„Was? Bei mir? Ja, klar."

Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Wieso rufst du dann an?"

„Weil ich wissen wollte, wie es dir geht."

Ich runzelte die Stirn. Das wollte er doch sonst auch nicht wissen. Na gut, dass war auch nicht unbedingt richtig, aber nicht so.

Als hätte er meine Gedanken lesen können, fügte er hinzu. „Ich weiß, was heute für ein Tag ist."

„Oh."

„Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du bist an diesem Tag immer weg gegangen und wolltest allein sein, aber ich hatte Sorge, dass du Niemanden zum Reden hast, falls es dir doch danach sein sollte. Ich war die letzten Jahre immer zuhause geblieben, falls du nicht allein sein wolltest, aber jetzt..."

Er war was? Es stimmte. Mir war es nie bewusst aufgefallen, aber er sagte die Wahrheit. Wenn ich daran zurückdachte, war er jedes Jahr am Geburtstag meines Bruders und auch am Jahrestag des Unfalles zuhause gewesen. Er hatte nicht mit mir darüber gesprochen. Hatte kein Wort darüber verloren, aber er war immer da gewesen.

„Als du nicht geantwortet hast, hab ich mir Sorgen gemacht. Ich wusste nicht, ob du einfach allein sein wolltest oder es dir so schlecht ging, dass du... Ich weiß auch nicht."

„Mir geht es-" Ich brach ab, bevor die Lüge meine Lippen erneut verließ. Er wusste, dass es nicht die Wahrheit wäre. Ich hatte nicht gedacht, dass er es wüsste. Ich hatte nicht einmal geahnt, dass er überhaupt wusste, was für ein Tag heute war.

„Elena?"

Meine Augen brannten wieder einmal und meine Hals fühlte sich an wie zugeschnürt. „Ich... Ich bin... okay..."

Es verstrichen einige Sekunden der Stille. „Kann ich etwas für dich tun?"

Es überraschte mich, dass sich ein warmes Gefühl in meiner Brust ausbreitete. „Das hast du schon."

„Was?"

„Danke."

„Wofür? Ich hab doch gar nichts getan."

„Du hast die letzten Jahre viel mehr getan, als ich gewusst hatte. Ich danke dir."

Wieder schwiegen wir eine Zeitlang. „Also kann ich nichts weiter für dich tun?"

„Nein, aber du hast auch schon genug getan."

„Ganz sicher?"

„Absolut sicher." Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht. „Danke für den Anruf."

„Sehr gerne."

„Ich... Ich sollte dann zurück gehen. Die anderen machen sich wahrscheinlich jetzt Sorgen um mich."

„Wissen sie, was heute-"

„Nein.", unterbrach ich ihn. „Wissen sie nicht. Sie machen sich eher Sorgen, weil ich so bestürzt war, als ich deinen Anruf sah. Ich dachte dir wäre etwas passiert..."

„Oh, meine Güte, Elena! Es tut mir so leid. Das hatte ich nicht gewollt. Ich-"

„Alles gut. Natürlich hattest du das nicht gewollt." Ich schüttelte den Kopf, auch wenn er es nicht sehen konnte. „Dieser Tag nimmt mich immer sehr mit. Ich hätte nicht gleich vom schlimmsten ausgehen sollen."

„Ich kann es dir nicht verübeln.", flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. Als hätte er es mehr zu sich selbst gesagt als zu mir.

„Bis bald."

„Pass auf dich auf."

Ich legte auf und genau in dem Moment, kamen die Tränen. Doch dieses Mal waren es nicht nur Tränen der Trauer, nicht einmal nur Tränen der Schuld oder Wut. Dieses Mal vermischten sich auch Tränen der Erleichterung bei. Erleichterung und Dankbarkeit.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich das fühlen würde. Christoph war immer für mich da gewesen und ich hatte das einfach nie gesehen. Er war jedes Jahr zuhause geblieben und das war bei ihm schon etwas besonderes. Seine Arbeit war sein Leben. Er nahm sich nie Urlaub. Warum war mir das nie aufgefallen?

Weil ich an diesen Tagen keinen Gedanken an ihn verschwendet hatte. Ich war in meiner Trauer versunken und in meinem Schuldgefühl. Alles, was um mich herum geschah, hatte ich ausgeblendet.

Er hatte alles richtig gemacht. Er war für mich da gewesen, hatte mich aber nie zu etwas gedrängt. Seit ich hier im Internat war, hatte ich mich verändert. Vor dieser Zeit hätte ich wahrscheinlich anders reagiert. Wenn er mir damals gesagt hätte, dass ich jederzeit zu ihm kommen konnte, um mit ihm über Manu zu reden, wäre ich wahrscheinlich ausgetickt. Hätte gedacht, was er sich einbildete, denn er hatte ihn ja nie gekannt.

Er hatte alles richtig gemacht und ich hatte es nicht einmal geahnt. 

Greatest Love but Greatest FearDonde viven las historias. Descúbrelo ahora