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Ich schaute ihnen kurz hinterher und suchte dann mein Buch aus meinem Rucksack heraus. Mit ihm lief ich zu den Steinen, die aus dem Wasser ragten. Sie waren groß, sodass man sich ohne Probleme drauflegen konnte. Stattdessen sprang ich auf den nächsten, sodass ich wie auf einer kleinen Insel im Wasser stand. Statt mich hinzulegen, setzte ich mich in einen Schneidersitz. Das Wasser war ganz nah, aber selbst die Strömung, die gegen den Felsen schlug, erreichte mich nicht. Genauso wie ich es mochte. Nah und zur selben Zeit entfernt.

Wie fast immer, wenn ich ein Buch las, vergas ich alles um mich herum. Meine Augen glitten über die Zeilen und ich versank in diese, mir noch völlig fremde, Welt. Ich ließ die Worte in mich einfahren. Auch wenn ich erst am Anfang war, war ich voll und ganz in diese Welt getaucht. Ich war dieses Mädchen. Mein Vater hatte immer gesagt, es sei eine Gabe, dass ich mich so gut in die Figuren hineinversetzen konnte. Dass ich zu ihnen wurde. Ihre Gedanken und Gefühle teilte. Doch ich hatte das immer abgestritten. Ja, ich wurde tatsächlich zu ihnen, aber ich glaubte nie, dass das etwas Besonderes war. Ich war immer der Meinung gewesen, dass viele Menschen das konnten. Das eben dies wohl alle Menschen verband, die gerne lasen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand der eine Leidenschaft fürs Lesen hegte, nicht in der Lage war sich hineinzuversetzen. War nicht genau das der Reiz beim Lesen? Vielleicht irrte ich mich und mein Vater hatte recht, aber eigentlich war es auch egal. Ich hatte es immer geliebt mir vorzustellen jemand anderes zu sein. Ein Leben zu führen, welches meinem überhaupt nicht glich und das hatte sich seit dem Unfall nur noch verstärkt. Früher wurde ich zwar gerne von einem Buch in ein neues Leben entführt worden, aber genauso gerne war ich in mein Leben zurückkehrt. Ich war glücklich. Ich hatte eine Leidenschaft, die ich regelmäßig ausübte und auch erfolgreich dabei war. Ich hatte gute Freunde, die immer für mich da waren und ich hatte eine Familie, die mich ehrlich liebte und mich bei allem unterstütze. Das alles hatte ich jetzt nicht mehr. Es sollte also niemanden verwundern, dass ich nun noch lieber in meine Bücher versank. Mir vorstellte, mein Leben sei ein anderes. Mittlerweile stellte dies eine Flucht aus meinem Leben dar, die ich nur zu gern ergriff. All meine Sorgen und Ängste hinter mir lassen. Mir vorstellen, dass alles gut war. Dass ich eine Familie hatte. Eine Familie, die lebte.

Selbst wenn die Charaktere in den Büchern selbst immer wieder Rückschläge erleiden mussten, wusste man doch, dass sich alles zum Besseren wenden würde. Dafür brauchte es nicht einmal ein Happy End. Selbst in den Geschichten in denen das Ende nicht Friede, Freude, Eierkuchen war, konnte man sich doch fast immer darauf verlassen, dass nicht alles schlecht war. Vielleicht schafften sie es doch nicht reich und berühmt zu werden, wie sie sich immer erträumt hatten, aber dafür hatten sie ihren Seelenverwandten gefunden und waren trotzdem glücklich. Oder genau andersherum. Es gab sicherlich Bücher, bei denen das Ende wirklich nicht gut war, aber von denen waren mir bisher nur sehr wenige untergekommen. Im Prinzip hatte ich auch nichts dagegen. Diese Bücher waren immerhin realistisch. Im wahren Leben gab es kein Happy End. Zumindest nicht in meinem.

Ich blickte erst von meinem Buch auf, als ich hörte, wie sich jemand neben mich auf den Felsen setzte. Es war Oli. Die Sonne ließ das Wasser in seinen Haaren und auf seinen Körper glitzern. Er berührte mich nicht und ich überprüfte, dass er mir weit genug entfernt war, sodass ich nicht durch eine versehentliche Bewegung nass wurde.

Gezwungen erwiderte ich das Lächeln, das er mir zuwarf. Was genau wollte er? Wieso setzte er sich zu mir, aber sagte nichts? Ich ließ mein Blick über den See streifen. Weiter zu lesen, erschien mir unhöflich. Kim und Robin standen im hüfttiefen Wasser und spritzten sich gegenseitig nass. Dabei lachten sie und kamen sich immer wieder nah, um sich zu gegenseitig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gerade sprang Kim auf Robins Rücken, um ihn durch den Schwung ins Wasser zu drücken. Sie schaffte es nicht. Stattdessen zog er sie von seinen Rücken runter und warf sie einen halben Meter vor sich in den See. Als sie wiederauftauchte, begann sie augenblicklich wieder an zu lachen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich sie für ein Paar gehalten, so vertraut wie sie miteinander umgangen. Dass diese Vertrautheit davon herrührte, dass sie Geschwister waren, hätte ich nie erraten.

Greatest Love but Greatest FearOù les histoires vivent. Découvrez maintenant