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„Ich hab dich überall gesucht, Elle.", wiederholte er. „Wo warst du denn?"

„Hier.", antwortete ich und verdrehte die Augen.

Er lachte auf. „Du bist so witzig, Elle!"

„Ugh. Verdammte Scheiße." Ich hielt ihm die Flasche Wasser hin, die ich vorhin mitgenommen hatte. „Trink das."

„Danke, Elle." Die Art, wie er meinen Namen aussprach und ständig wiederholte, ließ mich die Stirn runzeln, doch ich sagte nichts, sondern sah einfach zu wie er die Flasche komplett austrank. Viel zu schnell, meiner Meinung nach. Hoffentlich würde ihm jetzt nicht schlecht werden.

Es schien nicht so zu sein. Im Gegenteil, es wirkte als hätte das Wasser geholfen. Seine Stimme wurde klarer, genauso wie sein Blick. Auch wenn ich mich der Illusion hingab, dass er jetzt nüchtern war.

Doch noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, riss er mir plötzlich das Foto aus der Hand. „Verdammt, Elle! Wieso hast du nie gesagt, dass du einen festen Freund hast?"

Zu überrascht, als das ich hätte antworten können, versuchte ich ihm das Foto weder zu entreisen, doch er war aufgesprungen und hielt es hoch in die Luft, sodass ich es nicht erreichen konnte.

„Oh, ich verstehe. Ihr habt eine Fernbeziehung und du weinst jetzt, weil du an seinem Geburtstag nicht bei ihm sein kannst."

Erst als ich diese Worte hörte, spürte ich die Tränen, die mir über die Wange liefen. Das war noch eine Sache gewesen, die ich früher nie verstanden hatte, wenn ich sie in einem Buch gelesen hatte. Wie sollte man nicht mitbekommen, dass man weinte? Aber nach Manus Tod hatte ich gelernt, dass das sehrwohl möglich war. Ich glaubte die Sache war die, dass wenn man zu oft aus dem selben Grund weinen musste, bemerkte man es einfach nicht mehr, weil es ein Normalzustand war. „Er ist nicht mein Freund."

„Oh... Ja, Fernbeziehungen können wohl echt hart sein. Du weinst also, weil er mit die Schluss gemacht hat, aber du noch Gefühle für ihn hast?"

„Was? Nein!"

„Achso..." Er sah mich mitleidig an. „Er hat dich betrogen, ja?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein! Nein. Ich war nie mit ihm zusammen."

„Oh, jetzt verstehe ich es aber!" Er kam wieder auf mich zu. „Du standest auf ihn, aber er wollte nichts von dir." Er legte seine rechte Hand auf mein Gesicht und strich mir über die Wange, als würde er die Tränen wegwischen wollen. „Ich sag dir eins: Er ist derjenige, der etwas verloren hat. Nicht du. Wenn er nicht sieht, wie toll du bist, hat er dich gar nicht verdient."

„Äh? Danke?" Ich schüttelte den Kopf. „Aber du verstehst das vollkommen falsch. Er war nie mein Freund und ich wollte auch nie, dass er mein Freund sei. Das wäre... abartig."

„Tatsächlich?"

Ich nahm seine Hand von meinem Gesicht. „Er ist mein Bruder."

Er riss die Augen auf und lief einen Schritt nach hinten. „Dein Bruder?! Du hast einen Bruder?!"

„Frag nicht.", murmelte ich, griff nach dem Foto und steckte es mir in die Hosentasche, während ich mich wieder auf den Baumstamm setzte.

Robin blickte mich noch einige Sekunden mit schief gelegtem Kopf an und setzte sich dann neben mich. Er sagte kein Wort mehr. Wir schwiegen einfach vor uns hin.

Wir saßen einfach da. Stundenlag. Der Lärm verebbte langsam, aber wir blieben schweigend sitzen.

Es wurde auch immer kälter und ich begann zu frösteln. Als er das merkte, zog er sein Hemd aus, natürlich ebenfalls schwarz. Ich hatte bisher gar nicht gemerkt, dass sein Outfit sich verändert hatte. Er legte es über meine Schultern und dann auch noch seinen Arm. Er zog mich leicht zu sich heran, als wäre es eine stumme Einladung mich an ihn zu kuscheln, ohne mich zwingen zu wollen. Zu meiner eigenen Überraschung ließ ich mich darauf ein und bettete meinen Kopf auf seine Schulter.

Greatest Love but Greatest FearWhere stories live. Discover now