Andere Menschen, Schüsse und offene Fragen

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Wann war ich das letzte Mal so emotional aufgewühlt gewesen? 

Ich wusste es nicht, also musste es wohl schon eine ganze Weile her sein. Ich hatte geweint, was nicht ungewöhnlich war, wenn man gerade so dem Tod entkommen war und so viele grausame Dinge erlebt hatte. 

Ja, ich fühlte mich schuldig, obwohl ich nicht schuldig war. 

Diese Welt schien so zu funktionieren, es gab keine anderen Wege, um zu überleben. Hier musste man egoistisch sein, wenn man sein Leben nicht wegwerfen wollte. Ich musste vielleicht töten, um zu leben - warum? Wieso gab es überhaupt so ein Land, wer war auf die Idee gekommen, Menschen zu Killern zu machen?

Genau diese Fragen flogen in meinem Kopf herum, als ich mit der Karte spielte, welche ich auf einem weißen Tisch vorgefunden hatte. Das Licht war nach dem Spiel schnell wieder erloschen und hatte den Park erneut in ein finsteres Gebiet gewandelt. Ich hatte ewig gebraucht, den Eingang zu erreichen. Doch als ich an dem Handytisch vorbeigetrottet war, hatte diese Karte dort gelegen.

Es war die Pokerkarte Herz 3 gewesen.

Ich hatte die Karte eingesteckt, bevor ich den Heimweg angetreten war.

Es hatte mich meine letzte Kraft gekostet, wieder zurück in meine Wohnung zu kommen. Alleine, wenn ich wieder daran denken musste, wurde mir übel. Die letzten Nächte waren auch nicht wirklich erholsam gewesen, denn ich hatte mit fiesen Albträumen zu kämpfen gehabt. Immer wieder hatte ich ihre Gesichter gesehen, die mich verfolgten, bis ich schweißgebadet aufwachte. Zudem hatte ich in der Ferne andere Spiellocations gehört, wo Sachen explodierten oder Schreie ertönt waren. Auch die Laser, die vom Himmel kamen, hatte ich gesehen. 

Somit war meine Vorstellung von dieser Welt gewachsen. Ich zweifelte nicht mehr daran, dass dieses Land hier echt war und ich spielen musste, um zu überleben. 

Auch heute Abend müsste ich mein Visum verlängern. Schon beim Aufstehen wusste ich, dass der heutige Tag sehr lang werden würde. Die Zeit verging schleichend und ich bemerkte schnell, dass ich mich nur weiter verrückt machte. Also beschloss ich, Vorräte zu sammeln. 

Meine "frischen" Lebensmittel im Kühlschrank waren alle schlecht geworden und ich hatte kaum noch Dosen, die etwas zu Essen enthielten. So konnte ich zumindest die Zeit totschlagen, indem ich auf Essensjagd ging. Und wenn ich schon einmal dabei war, könnte ich mir auch gleich noch ein paar Wechselsachen besorgen. Meine ganzen Klamotten waren aus meinem Schrank verschwunden, was nicht unüblich war, denn jeder hatte hier einbrechen können. 

Ich griff nach meinem Rucksack und zog meine Schuhe an, bevor ich wieder nach meinem Haustürschlüssel griff. Es würde mir zwar nicht viel nutzen, aber so fühlte ich mich ein wenig sicherer. 

Etwas stürmisch rannte ich die Treppe hinunter und legte mich fast wieder auf die Nase. Doch es versicherte mir zumindest, dass ich mich nicht verändert hatte. Ich war noch immer Ayuna, die mit dem Koordinationssystem eines Kleinkindes zu kämpfen hatte.

Mit diesem Gedanken verließ ich das Gebäude und machte mich dann im Laufschritt auf den Weg, um zum nächstgelegenden Supermarkt zu kommen. Klar, ich hatte versucht, ein Auto zum Laufen zu kriegen, aber es funktionierte nicht. Außerdem fuhr ich nicht gerne, weshalb ich es gewohnt war, zu Fuß unterwegs zu sein. 

Als der kleine 7-Eleven in mein Blickfeld geriet, wurden meine Hoffnungen auf eine gute Beute jedoch ein wenig gemindert. Der Anblick des Geschäftes ließ darauf deuten, dass dieser Ort schon geplündert worden war. Trotzdem betrat ich das Geschäft und sah mich um. Die ersten Regale waren leer und es stank nach abgelaufenen Lebensmitteln. Ich musste meine Nase ein wenig zuhalten, um mich nicht übergeben zu müssen. Tatsächlich zwang ich mich aber, weiter durchzugehen.  

Je weiter ich durch die Gänge ging, desto weniger stank es und desto voller wurden die Regale. Ich öffnete meinen Rucksack und ließ Tüten, Dosen und andere abgepackte Sachen hineinfallen. Ich griff zudem nach mehreren Wasserflaschen, auch wenn ich diese weiter mitschleppen musste. Es fühlte sich kriminell an, die Sachen einfach mitzunehmen, aber Geld schien in dieser Welt unwichtig zu sein, also brauchte ich es nicht. 

Ich beeilte mich, das Geschäft wieder zu verlassen und steuerte einen Modeladen an, der zu meinem Glück noch genug Ware hatte. Ich griff schnell nach den Sachen, die ich brauchen könnte, damit ich nicht zu viel Zeit hier verschwendete. Gerade, als ich die letzte Sporthose in die Tasche steckte, wurde ich jedoch auf etwas aufmerksam. 

Es war ein Motorgeräusch. Nein... Es waren mehrere Motoren. Was passierte hier auf einmal? 

Ich griff schnellstmöglich nach meinen Sachen und schlüpfte durch den Eingang in die nächste Gasse hinter die Abfallcontainer. Von hier hatte ich einen guten Blick auf die Straße. Und tatsächlich: Zwei Lieferwagen fuhren vorbei und hielten vor dem 7-Eleven an. Ich hörte, wie die Türen knallten und aufgeregte Stimmen die Stille erfüllten.

"Aufgepasst! Nehmt so viel mit, wie ihr könnt!", rief eine tiefe Stimme und ich zuckte zusammen, als ein Schuss ertönte. 

"Hey ya! Guys, wenn auch nur einer Anstalten macht, sich auf die faule Haut zu legen, dann zerdrücke ich euch wie die Fliege, die heute Morgen in meinem Zimmer war!", diese Stimme gefiel mir nicht. Sie war ein wenig hoch, wirkte, als wäre die Person nicht mehr ganz richtig im Kopf. Es jagte mir einen Schauer über den Rücken. 

"Beeilt euch, dass wir rechtzeitig zum Beach zurückkommen!", rief Stimme 1 und ich stutzte. Beach? Was sollte das denn sein? Und warum wollten sie zum Strand? Ich drückte mich noch ein wenig enger an die Wand, als ich Schritte hörte, die in meine Richtung kamen. Sie verstummten vor dem Gasseneingang und ich vermutete, dass die Person in jenem Moment versuchte, hineinzuspähen. Ich betete, dass sie nicht hineinkam und mich entdeckte. Noch wusste ich zwar nicht, mit wem ich es zu tun hatte, aber wenn ich ehrlich war, wollte ich es nicht so wirklich herausfinden. 

Ich hatte gerade genug Probleme mit mir selbst und die anderen Menschen hörten sich an, als würden sie mir noch mehr geben. Zu meinem Glück entfernten sich die Schritte wieder und ich schnappte gierig nach Luft. Anscheinend hatte ich die Luft angehalten. Ich wartete, bis die Lieferwagen endlich wieder ansprangen und sich entfernten, bevor ich vorsichtig um die Ecke lugte. Als ich mir sicher war, dass die Luft wirklich rein war, lief ich zurück in die Richtung, woher ich gekommen war. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte mir, dass ich noch immer reichlich Zeit hatte und ich mich eigentlich nicht beeilen brauchte, doch ich ging auf Nummer sicher.

Wollte ich herausfinden, was dieses komische Beach war? Würde ich die Personen vielleicht in meinen Spielen treffen? Und... warum hatte die eine Person eine Waffe? Fragen über Fragen, doch ich fand keine Antwort. Ich wollte zwar eine finden, aber das würde bedeuten, dass ich mich in die Höhle des Löwen begeben musste, oder? Wollte ich das wirklich? 

Viel wichtiger war jetzt aber die Frage: Waren die Spiele nun noch gefährlicher als vorher?


The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now