Der Anfang vom Ende

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Er hatte nicht zu viel versprochen.

Die Show fing wirklich gerade erst an. Ich hatte mich zusammen mit Chishiya auf einer Anhöhe im Schatten versteckt und beobachtete einfach nur, was in der Lobby so alles vor sich ging.

Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht sogar amüsiert. Aguni, der im Selbstmitleid gefangen war, versuchte, alle davon zu überzeugen, dass er die Hexe war. Das hatte Arisu zumindest entdeckt. Er war zusammen mit Usagi schwer verletzt in der Eingangshalle aufgetaucht und versuchte, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Wenn ich ehrlich war, hatte ich nicht wirklich eine Ahnung, mir fehlten die Ansätze. Außerdem war mir eh ein wenig schummrig, da ich Kopfschmerzen von der Luft hier drinnen bekommen hatte.

"Geb' es zu, Aguni! Du bist es nicht! Du versuchst nur, mit dem Fakt auszukommen, dass du deinen besten Freund Danma getötet hast!", Arisu wurde heftig von der neuen Nummer 1 weggestoßen und der Anführer schrie laut auf. Er hatte einen wunden Punkt getroffen. Ich hatte nicht gewusst, was wirklich in jener Nacht passiert war, als man den Hutmacher tot zurückbrachte, aber irgendwie schockte mich diese Erkenntnis überhaupt nicht.

"Ich bin die Hexe! Ich bin euer Gegner!"

"Nein! Das bist du nicht! Momoka-" Auf einmal sprang ein mir unbekanntes Mädchen auf. Sie holte tief Luft: "Hört mal alle her!" Das Gewusel stoppte für einen kurzen Moment. "In diesem Spiel war ich ein Dealer!" Ein Laser schoss augenblicklich vom Himmel herab und sie fiel tot um.

Es war still...

Völlig zurecht, denn auch ich war geschockt. Sie war ein Dealer gewesen? Was hatte das zu bedeuten?

Ich spickte zu Chishiya, doch auch er schien ein wenig aus der Fassung gebracht worden zu sein. Also war ich nicht alleine mit diesem Gedanken gewesen.

"Momoka ist die Hexe! Sie hat sich selber umgebracht, um das Spiel zu beginnen! Es ist ein Herzspiel! Diese Art ist darauf ausgelegt, dass man mit den Herzen anderer spielt, sie in die Irre führt und sie betrügt!", stieg Arisu wieder ein und ein großes Tor öffnete sich mir.

Na klar! Er hatte Recht!

Ann, die gerade mit Kuina in die Halle trat, hob ihre Hand. "Er sagt die Wahrheit! Das Messer steckte verkehrt herum in ihrer Brust. Außerdem waren nur ihre Fingerabdrücke zu finden", unterstützte sie ihn und hielt das Beweismittel hoch. Die Menge schien es so langsam ebenfalls zu realisieren.

Es verbleiben 5 Minuten!

Ein lauter Schrei durchzog die Eingangshalle und ich riss die Augen auf, als Niragi plötzlich in die Halle sprintete.

Er hatte überlebt?

Und jetzt? Was würde er tun - er würde doch nicht...

Doch, natürlich. Er nietete jeden um, der ihm im Weg stand.

Für einen kurzen Moment spähte er in unsere Richtung, ich sah einen Funken in seinen Augen. Dann richtete er urplötzlich den Gewehrlauf in unsere Richtung und...

... schoss.

Ich war nicht schnell genug, doch Chishiya zog mich rasant in seine Richtung und ich kam unbeschadet davon. "Danke!", keuchte ich, "Das war knapp..."

"Manchmal frage ich mich echt, ob du vielleicht doch dümmer bist, als ich dich eigentlich einschätze", murmelte er hinter mir, "Du reagierst wie eine Schnecke. Was ist in letzter Zeit los mit dir?"

"Vieles."

Bei diesem Wortwechsel blieb unser Gespräch auch, denn in derselben Sekunde hörten wir erneut Aguni, wie er laut schrie. Doch dieses Mal nur, weil er Niragi abfing und mit ihm zusammen in die Flammen stürzte, die sich bereits in die Lobby fraßen. Nicht mehr lange, dann stand der ganze Schuppen hier in Flammen.

Unten setzten sie sich so langsam in Bewegung und begannen, Momoka nach draußen zu tragen. Das Spiel sollte endlich beendet werden.

Chishiya wandte sich von mir ab. "Jetzt ist es wohl Zeit, sich zu entscheiden", meinte er zu mir, "Was wirst du tun?"

Was? Was meinte er? Ich -

Oh.

Ich schätzte, er wollte mich fragen, ob ich sie begleiten wollte oder lieber einen anderen Weg ging. Was wollte ich überhaupt? So weit hatte ich noch gar nicht gedacht...

Er setzte sich wieder in Bewegung und ließ mich alleine stehen.

Gratulation! Ihr habt das Spiel gewonnen!

Allen Überlebenden wird ein 10 Tage Visa ausgestellt!

Ein Visa, huh. War es doch noch nicht vorbei?

Was würde wohl noch alles passieren, wollte ich es herausfinden?

Langsam setzte ich mich in Bewegung. Ich wollte hier einfach nur noch raus.

Was danach kam, würde ich bedenken, wenn ich endlich wieder normalen Sauerstoff atmen konnte.

CO² und Kohlenstoffmonoxid waren wirklich nicht so gesund, die lahmen Werbungen im Fernsehen hatten Recht gehabt.

Ich stieg die Treppe hinab, dann verließ das Gebäude durch einen Seitenausgang und entfernte mich erst einmal ein gutes Stück, bis ich zum kleinen Strand kam, der am Fluss mündete. Dort ließ ich mich vorerst nieder und blickte auf die Wasseroberfläche.

Das Ende vom Anfang.

Irgendwie hörte es sich lustig an, aber mir war eher zum Weinen zumute. So viel Ungewissheit...

Wer war noch am Leben, wer war gestorben?

Was war mit Ayumi?

Wie würde es weitergehen?

Würde ich es schaffen, weiteren Schicksalsschlägen stand halten zu können?

Würde ich Kuina, An, Arisu, Usagi und... Chishiya wiedersehen?

Mein Blick verlor sich im Wasser. Das Leuchten in meinen Augen war verschwunden, stattdessen blickte mir die Erschöpfung entgegen. Ich war mit meinen Kräften am Ende.

Missmutig zog ich ein kleines Taschenmesser aus meiner Tasche. Ich hatte es mitgehen lassen, als ich Beach verlassen hatte.

Zögerlich griff ich nach meinem verbrannten Zopf und schnitt nach einer kurzen Pause den Teil ab, der den Flammen zum Opfer gefallen war.

Mein einst langes, wunderschönes Haar, auf welches ich sehr stolz gewesen war, fiel zu Boden. Die losen Strähnen fielen mir nun nur noch knapp über die Schulter. Was für ein ungewöhnliches Gefühl...

Ich stand auf und blickte noch einmal zurück. Beach stand komplett in Flammen. Ich würde weiterziehen können, ohne aufgehalten zu werden - nichts würde mich mehr an diesem Ort halten.

Das Schicksal hatte mir bis jetzt den Weg gezeigt. Es sollte die Entscheidung für mich tragen, ob ich ihn noch einmal wiedersehen würde.

Und wenn es wirklich so war, dass wir noch einmal aufeinandertrafen, dann würde ich ihm wenigstens erzählen, was mein Herz mir sagte. Es würde mir egal sein, ob er mich zurechtwies, nein, vielleicht sogar abwies.

Wenn das Schicksal uns wieder zusammenführte, sollte er es wissen. Es war fair, dass er davon wusste.

Und so wandte ich meinen Blick ab und setzte Schritt für Schritt. Ich blickte nicht zurück, sondern ging immer weiter geradeaus.

Immer weiter verschwand ich wieder in Tokio.

Eine leere, kalte Stadt...

Ein Spielort, der vielleicht noch eine Überraschung parat hielt.

Ich war vielleicht nicht bereit für das, was kommen würde.

Aber ich würde kämpfen, koste es was es wolle.

The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now