Der erste Schritt in Richtung Wahrheit

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Jeder Schritt, welcher im Leben getätigt wird, hat Folgen in der Zukunft.

Ich hatte Angst gehabt, überhaupt einen Schritt in eine andere Richtung zu machen.

Angst ist eine starke Emotion. Es ist beklemmend, hindert einen daran, irgendetwas zu machen. Wer weiß, vielleicht war das ja auch die Ausrede gewesen, die ich mir früher immer eingeredet hatte.

"Es wird besser werden. Irgendwann wirst du auch so geliebt werden, wie sie geliebt wird."

Es war naiv, dass wusste ich. 

Eine Fehlentscheidung.

Ich hatte sie alleine durchleben müssen... ich hatte auf schmerzliche Weise erleben müssen, dass es nie zu diesem Wunsch gekommen war. 

Ich sei das schwarze Schaf der Familie, sagten sie mir, es wäre alles besser gewesen, wenn ich nicht da gewesen wäre

Man kann sich vorstellen, welche Gewichtung diese Worte bei einem kleinen Mädchen hatten.

Ich hatte diese Mauer aufgebaut, um nichts und niemanden heranzulassen. Und jetzt hatte er sie eingerissen. Er hatte mich zurück an den Boden der Tatsachen gezogen.

War ich bereit, endlich zu rebellieren? 

Ich hatte die perfekte Voraussetzung: Sie war alleine. Sie wurde nicht von Mutter und Vater unterstützt, die sie immer schützend hinter sich gestellt hatten. Es war meine Chance, endlich Ruhe in mir zu finden. Die letzten einundzwanzig Jahre waren vergangen, sie waren nicht mehr zu ändern, aber ich würde mir meine Zukunft zurückholen, mein hier und jetzt.

Ich würde nicht mehr stillsitzen und zusehen, wie sie mir wieder alles nahm. Ich war gewachsen, wobei ich zeitgleich über meine eigenen Grenzen geschritten war. Ich war nicht mehr die kleine Ayuna, die sich gegen alles wehrte, nur, um nicht im Feuer stehen zu müssen.

Ich fasste mir an die Hand und spielte mit dem alten Armband. Es war ein Anfang. Ich wusste, dass es sie auf die Palme trieb, wenn ich das Neue trug, welches Chishiya mir erst in die Hand gedrückt hatte. Und so öffnete ich den Verschluss, nahm es ab und legte das Neue an mein Handgelenk. 

Es fühlte sich irgendwie anders an, ungewohnt und leicht. 

Ich nahm das andere und betrachtete es noch ein letztes Mal. Wahrscheinlich wollte Hatter es zurückbekommen. Ich würde es ihm nachher überreichen. 

Dann drückte ich mich vom Boden hoch und folgte Chishiya insGebäude. Sofort war die Luft wieder abgestanden und ich rümpfte die Nase bei der Geruchskulisse, die sich mir bot. Langsam stieg ich die Treppe hinunter, wobei ich noch einmal nach dem blonden Haarschopf Ausschau hielt - doch natürlich war er nicht mehr hier. Vielleicht war es auch besser so.

Ich würde jetzt erst einmal in mein Zimmer gehen, egal, was passieren würde.

Als ich den Flur betrat, musste ich fast lachen. Ayumi stand noch immer vor der Tür, aber schien schon ziemlich abgenervt. Anscheinend war sie so verzweifelt, dass sie sich doch tatsächlich mal die Zeit nahm. Dieses Verhalten kannte ich gar nicht von ihr.

Mein inneres Gefühl sagte mir, dass ich mich umdrehen sollte, doch ich wollte mein Versprechen nicht brechen. Ich wollte endlich den ersten Schritt machen.

Als sie meine Schritte hörte, drehte sie sich um. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. 

"Na endlich", sie kam auf mich zu und wollte nach meinem Handgelenk greifen. Doch als sie das neue Armband sah, hielt sie inne. "10?", sie spuckte das Wort verächtlich aus, "Das kann nicht sein, du musst es gestohlen haben!" Sie wollte nach dem Armband greifen, doch ich war schneller. Sie griff ins Leere. 

"Gib es her! Es war für mich bestimmt! Niragi hatte mir versprochen, dass ich es bekommen würde!", sie war auf einmal wieder das kleine, verwöhnte Mädchen. Man merkte es ihr nicht an, dass sie so alt wie ich war. 

"Ich habe es nicht gestohlen", meine Stimme war kälter, als ich es beabsichtigt hatte. Sie sah mich mit großen Augen an. 

"Was hast du gesagt?", wollte sie wissen. Ihre Aura war auf einmal gefährlich und mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Ich wiederholte meine Aussage und sah ein wenig genüsslich zu, wie ihr Gesicht leicht rötlich anlief. Verdammt, warum fühlte es sich so gut an, endlich den Mund aufzubekommen?

"Du kleine Bitch! Eine nutzlose Gestalt wie du hast es nicht verdient, besser als ich zu sein! Verhalte dich so, wie du es sonst immer tust, Niete! Was machst du denn!? Du weißt ganz genau, auf welchem Stand du stehst! Was fällt dir ein, dich gegen meine Worte zu stellen?!", die Worte sprudelten ihr aus dem Mund. Sie war eifersüchtig, keine Frage. 

"Hast du vergessen, was ich dir gesagt habe? Dass es dir leidtun wird, wenn du dich gegen mich stellst?", sie hatte auf einmal wieder ein Grinsen in ihrem Gesicht.

Das war ihre Karte, die sie jetzt ziehen wollte? Ich verschränkte meine Arme. Was ich jetzt sagen würde, war riskant. Aber das war es vollkommen wert. 

"Ayumi", ich starrte ihr geradewegs in ihre Augen, "Sehe es ein... Ich habe mich geändert, ich will nicht mehr in diesen lächerlichen Streit verwickelt sein! Denk mal nach: Ich habe die Unterstützung von zahlreichen Mitgliedern aus der Führungsrege. Meinst du, dass du die Konsequenzen überwinden kannst, nur, weil du mit Niragi geschlafen hast?" Ihr Gesicht fiel ein, meine Worte zeigten Wirkung. "Und wie oft hast du es schon mit Hatter getrieben, wenn ich fragen darf? Er sieht dich an, als würde er dich am liebsten sofort entkleiden", diese Worte trafen noch mehr ins Schwarze. Sie schnellte vor und schlug mir ins Gesicht. Diese Reaktion war zu erwarten gewesen, aber ich hatte nicht damit gerechnet. Für einen kurzen Moment sah ich Sterne vor meinen Augen, doch dann holte ich aus und... traf ebenfalls.

Sie taumelte nach hinten und hielt sich ihr Kinn, wo ich sie getroffen hatte. Sie wirkte fassungslos. Ich sah sie noch immer an, mein Blick durchbohrte sie.

Aus den Zuschauerrängen musste es wie ein lächerlicher Kindergartenstreit aussehen, doch wenn man darin verwickelt war, konnte man sehen, wie tief sich die Wurzeln des Problems eigentlich gegraben hatten.

"Ich war so naiv, mich die letzten Jahre so von dir terrorisieren zu lassen. Verdammt! Ich habe genug von deinem Getue und deiner Persönlichkeit! Ich hasse es, dass du mir immer alles nehmen muss! Sei dir sicher, das, was du mir dieses Mal genommen hast, hole ich mir zurück. Koste es, was es auch wolle", ich ging an ihr vorbei, "Und du wirst mich daran nicht hindern, verstanden? Auch ich kann kämpfen - und ich werde es verdammt noch mal tun, wenn es so weitergeht wie jetzt!" Sie funkelte mich böse an. Ich öffnete meine Zimmertür, ging hindurch und schloss sie dann. 

"Du Bitch! Pass auf, du wirst das sowas von bereuen!", sie schrie so laut, dass es bestimmt in der Lobby zu hören war.

Ich atmete aus. Der erste Schritt war getan. Es fühlte sich so gut an! Warum hatte ich mich bloß nicht schon früher getraut?

Weil ein bestimmter junger Mann nicht vorher in meine Seele gesehen hatte.

Ich rieb mir mein linkes Auge, wo mich ihre Faust getroffen hatte. Das war es mir wert. Diese Nacht würde ich verdammt gut schlafen. Wer weiß, vielleicht würde sich ja jetzt wirklich ein neues Kapitel für mich öffnen...

Jetzt musste ich mir nur noch überlegen, wie ich meine Identität zurückbekam, ohne ein Chaos auszulösen. Ich war mir sicher, dass er es wusste, welchen Weg ich gehen sollte. Doch natürlich würde er es mir nicht sagen, er wollte lieber beobachten.

Wie er es immer tat.

Ich ließ mich auf mein Bett fallen und kuschelte mich in mein Kissen. Die Augen fielen mir zu, sobald ich die Decke über meinen Körper geworfen hatte. Dass ich noch immer das weiße Kleid aus dem Spiel trug, war mir komplett egal. Ich war erschöpft und wollte einfach nur noch Erholung. Ich hatte erst einmal alle Zeit der Welt, denn mein Visa würde so schnell nicht ablaufen.

Und so kam es, dass der Schlaf seine Hände um mich legte und mir zum Glück eine traumlose Ruhe schenkte.

The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now