Fragen ohne Antworten

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"Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist."

Ich kriegte auch diese Nacht kein Auge zu. Meine Gedanken schweiften einfach immer wieder ab und ließen mich nicht zur Ruhe kommen.

Er hatte mich verunsichert, es war so, als wäre noch etwas im Busch.

Er hatte sich verändert, genau wie ich. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich mit einer komplett anderen Person redete. Auch seine Art, wie er manchmal einfach nur ins Leere starrte, ließ mich denken, dass ihn etwas beschäftigte. Aber ich wollte nicht nachfragen, ich war nicht so offen wie er. Vielleicht würde er es mir irgendwann mal selbst erzählen.

Ich zuckte leicht zusammen, als sich der junge Mann neben mir auf die andere Seite drehte. Er schaute nun mit dem Gesicht zu mir. Da der Mond diese Nacht sehr hell schien, konnte ich seine sanften Gesichtszüge erneut bewundern.

Mein Herz machte einen Satz. Er war so wunderschön... Ich wollte ihn auf keinen Fall verlieren. Wer weiß? Vielleicht hatte ich endlich gefunden, wonach ich gesucht hatte.

Meinen neuen Hafen.

Jemanden, dem ich vertrauen konnte.

Klar, ich wusste, dass dieser Mann vor mir auch eine Gefahr sein konnte. Er war manchmal egoistisch, spielte mit anderen Menschen... und doch hatte er das noch nie so wirklich mit mir gemacht.

Verdammt, ich machte mir erneut Hoffnungen. Aber dieses Mal bereute ich es nicht. Nein, ich hatte einen neuen Plan.

Morgen würden wir umziehen. Chishiya meinte, dass der Pik König so langsam in unsere Richtung kam und er lieber kein Risiko eingehen wollte. Ich war da natürlich vollständig seiner Meinung gewesen - mit einem ungebetenen Gast wollte ich nicht rechnen müssen.

So waren wir zum Entschluss gekommen, dass wir uns zusammen etwas Neues suchen würden. Natürlich hatte ich mir die Frage gestellt, warum er mich immer miteinbezog.

Das war einfach nicht typisch Chishiya.

Es gab allerdings auch etwas, was ich ihm noch nicht erzählt hatte.

Morgen würde ich erneut spielen gehen. Ein Gefühl sagte mir, dass es die richtige Entscheidung war.

Mein Ziel lag in nicht allzu weiter ferne: Die Karo Königin.

Ja, vielleicht war ich keine Karo-Spielerin, aber das war mir im Moment ehrlich gesagt egal. Der Gedanke hatte sich in meinem Gehirn verankert, seit ich Ayumi getroffen hatte.

Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Komischerweise störte es mich nicht mehr, dass er neben mir lag. Ich genoss eher die Wärme und Zuneigung, die er am Tag nicht zeigte. Mein Körper saugte diese Elemente auf, ich wollte bloß nicht vergessen, wie es sich anfühlte.

Für einen Moment musste ich an das Pik Spiel zurückdenken.

Das Leben war verdammt kostbar. Diese Erkenntnis war mir mit jedem Spiel immer näher gekommen. Aber im Letzten - ja - da hatte ich es am deutlichsten gespürt. Und das hatte mir ein Verlangen gegeben, dass sich mit unserem Gespräch auf dem Balkon nur noch verstärkt hatte.

Ich wollte diese Angst nie mehr spüren. Die Angst, ihm nicht gesagt zu haben, was ich für ihn fühlte. Alleine die Erfahrung der Kraftlosigkeit hatte mir gereicht.

Vorsichtig ließ ich meine Hand über die linke Seite fahren. Die Nähte waren gut zu spüren, aber die Wunde heilte.

Ich könnte mich wieder verletzten, dieses Mal aber noch viel schlimmer.

Ein Risiko.

Das ganze Borderland war ein einziges Risiko.

Eines mehr würde also nicht schaden.

Morgen, wenn ich die Wohnung verließ, würde ich ihm alles erzählen. Ich würde den ersten Schritt machen. Wer weiß, vielleicht bereute ich es, vielleicht auch nicht.

Vorsichtig drehte ich meinen Kopf wieder zu ihm.

Es hing einzig und alleine von ihm ab.

In jenem Moment öffneten sich seine Augen und er sah mich an.

"Du schläfst noch nicht?", wollte er wissen und ich nickte einfach nur, bevor ich meinen Kopf zurück zur Decke drehte. Er sollte nicht sehen, dass ich rot anlief. Ich fühlte mich ertappt, ihn so angestarrt zu haben. Er schmunzelte.

"Habe ich was im Gesicht?", oh man, er neckte mich schon wieder!

"Nein", erwiderte ich schnell, "Ich hab dir nur beim Schlafen zugesehen."

Oh nein, Ayuna, das hast du gerade nicht gesagt, oder?! Wie peinlich!

Ich legte mir meine Hand auf meine Stirn und Chishiya lachte leise los. Auch er drehte sich schließlich auf den Rücken. Seine Lache erstarb recht schnell wieder, weshalb ich für einen kurzen Moment dachte, dass er eingeschlafen war. Doch das war er nicht.

"Ayuna."

Alleine, wie er meinen Namen aussprach, löste in mir etwas aus und ich versuchte, das unangenehme Kribbeln zu vergessen, welches sich in mir ausbreitete.

"Ja?", piepste ich und drehte meinen Kopf wieder zu ihm. Er hatte seinen Blick noch immer starr an die Decke gerichtet.

"Ich- ach, es ist egal. Du solltest schlafen, wir wissen nicht, wann wir uns das nächste Mal ausruhen können", ich hätte schwören können, dass er etwas anderes hatte sagen wollen. Doch seine besserwisserische Stimme, die er schnell aufgesetzt hatte, ließ mich an mir selbst zweifeln. Wahrscheinlich hatte ich mir das alles einfach nur eingebildet.

"Okay", wisperte ich leise zurück. Dann fielen wir wieder in unsere altbekannte Stille.

Keine Ahnung, wie lange es anhielt, aber ich konnte trotzdem nicht einschlafen. Es war wie verhext.

"Du solltest schlafen, hatte ich gesagt...", murmelte er nach einiger Zeit erneut und ich seufzte.

"Du schläfst doch auch nicht", erwiderte ich und er grummelte leise.

"Aber nur, weil du so laut atmest", meinte er und ich stieß empört die Luft aus.

"Gar nicht wahr!", verteidigte ich mich, als sich plötzlich zwei Arme um meinen Körper legten.

Ich brauchte zehn Sekunden, um verarbeiten zu können, was gerade passierte.

Und das auch nur, weil mein Kopf plötzlich an etwas anlehnte.

Ein schnell pochendes Herz war nur eine der Nebenwirkungen, die Chishiya Shuntaro in jenem Moment erzeugte.

Er hatte mich in seine Arme genommen.

Bildete ich mir das auch nur ein? Stellte mir mein Gehirn vor Müdigkeit einen Streich?

Vorsichtig hob ich meinen Arm und berührte seinen Körper. Tausend Stiche zogen durch meine Fingerspitzen. Nein, es war keine Einbildung. Ich lag wirklich in seinen Armen.

Sein sanfter Atem fuhr über meinen Kopf. Und auf einmal war ich ganz ruhig, mein Körper entspannte sich endlich.

"Jetzt schlaf endlich", flüsterte er leise und ich spürte, wie auch er sich entspannte.

So lagen wir zusammen auf der Matratze, umschlungen und zusammengepresst.

Meine Vermutung bestätigte sich nun umso mehr. Er hatte sich verändert, in ihm passierte etwas. Vor ein paar Wochen hätte er das nicht getan...

Und auf einmal hatte ich auch keine Angst mehr, ihm meine Gefühle zu gestehen, denn ich wusste, dass er sich nicht mehr über mich lustig machen würde.

Chishiya Shuntaro, was ging in deinem Kopf vor?

Die Müdigkeit kam schneller, als dass ich bis zehn zählen konnte. Meine Augen fielen von alleine zu und seine gleichmäßigen Herzschläge lullten mich so langsam ein.

Das Letzte, was ich noch mitbekam, war eine Hand, die mir durch die Haare strich. Dann kam endlich der lang ersehnte Schlaf, der mich in seine Tiefen holte.

The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now