Bauchgefühl

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"Hahahahaha, ernsthaft?! Mit einem Plastikbecher? ", Kuina hielt sich den Bauch vor Lachen, als wir abends gemeinsam auf der Couch im großen Wohnzimmer saßen. Mittlerweile war sie Stammgast in der WG, da sie sich auch mit den anderen beiden sehr gut verstand.

Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und hoffte, im Erdboden untergehen zu dürfen. Mir war es noch immer peinlich.

"Nicht die Art von Plastik", murmelte ich, "Sondern eher die harten, robusten Krankenhausbecher!" Sie klopfte mir auf den Rücken. 

"Der Fakt existiert trotzdem", grinste sie und ich verdrehte die Augen. 

Dann griff ich nach meinem Ipad und öffnete meine Notizen. Kuina lehnte sich in Richtung Ann und Hinata, die in ein Gespräch über irgendeine Boy Band gefallen waren.

Der heutige Tag war bis auf diesen einen, kleinen Zwischenfall ganz gut verlaufen. Ich hatte mich am Nachmittag mit einigen anderen Psychologen getroffen und sie ein wenig befragen dürfen. Tatsächlich hatten sie es geschafft, mir die Angst vor dem neuen Alltag ein wenig zu nehmen. Ich fühlte mich nun ein wenig sicherer.

Chishiya und ich hatten am Ende der Schicht noch kurz zusammengesessen. 

Er hatte mir noch einige, nützliche Informationen geliefert.

Ich sollte mich vorerst mit Haruka Yura und Asahi Kento beschäftigen. Chishiya hatte eine Untersuchung an der Kleinen durchführen lassen, die jedoch keine Anzeichen für eine körperliche Störung gezeigt hatte. Mein Gespür hatte sich also als richtig erwiesen - ein mentales Problem lag vor. 

Mit Asahi-san wollte ich mich ebenfalls ein wenig unterhalten, damit er die größte Angst überwinden könnte.

Das war mein Tagesplan in den nächsten Tagen.

Es gab nur eine Sache, die mich daran störte.

Der Name Sarumi Asami kam nicht in meiner Liste vor. Es wurmte mich ein wenig. 

Chishiya hatte auf meine Nachfrage nichts gesagt, aber seine Augen hatten mir verraten, was er gedacht hatte: Er traute es mir nicht zu.

Klar, ich hätte es wahrscheinlich auch gedacht, wenn ich die Reaktion der Patientin heute aus seiner Perspektive erlebt hätte, doch es tat trotzdem weh. 

Ich hatte das Verlangen, ihr helfen zu müssen. Sie wollte die Hilfe vielleicht nicht haben, aber ein Versuch war es wenigstens wert.

Mir war bewusst, dass ich mich nicht gegen seine Entscheidung stellen sollte. Er hatte das Kommando, traf Vorkehrungen, die nicht zu hinterfragen waren - und ich vertraute ihm, ohne Frage! Aber in diesem Fall... war ich mir nicht ganz so sicher. 

In mir hatte sich ein Knoten gebildet.

Es war dieses dumpfe Gefühl, was mich in eine innere Unruhe versetzte. Das Kribbeln in meinen Fingerspitzen machte es nicht besser.

"Hey! Ayu! Was starrst du so leer in die Luft? Hat dein Gehirn vielleicht doch Schaden genommen?", wollte Ann belustigt wissen und ich streckte ihr die Zunge heraus. 

"Ich verziehe mich für heute", erwiderte ich stattdessen, "Meine Augen fallen mir gleich zu." Hinata stimmte mir zu, bevor sie sich ebenfalls erhob.

"Ayu und ich haben morgen eine Frühschicht. Ich will nicht allzu müde sein, wenn wir aufstehen müssen", stimmte sie mir zu und wir winkten den beiden noch zu, bevor wir getrennte Wege gingen.

Doch an Schlaf war bei mir noch nicht zu denken.

Meine Gedanken schwirrten immer wieder zu Sarumi-chan.

Ich wusste, dass etwas passieren würde. 

Ich konnte nur noch nicht genau sagen, was es war, aber ihr Verhalten kam mir viel zu gut bekannt vor.

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Müde ließ ich mich auf einen der Stühle fallen und Chishiya grinste mich belustigt an. "Müde?", fragte er und ich nickte, bevor ich mir meine tränenden Augen rieb. Ich hatte fast zwei Stunden bei Asahi-kun verbracht. 

Wir hatten normalen Small-Talk geführt und ich hatte schnell gemerkt, dass sein Unwohlsein abnahm. Recht schnell kamen wir ins Gespräch über Interessen, Leben und Theorien, die uns prägten.

Es war einer der vielen Schritte gewesen, die ich gehen wollte. Mir war es lieber, langsam anzufangen, bevor ich in die tieferen Ebenen blickten.

"Dein Pech, Yura-chan wartet auf dich", informierte er mich, während er an mir vorbeilief. Er blieb kurz stehen und legte mir sein Klemmbrett auf den Kopf. Ich sah ihn fragend an und er grinste einfach nur, bevor er weiterging.

"Chishiya?", er blieb mit dem Rücken zu mir noch einmal stehen, "Ich würde gerne mit Sarumi-san sprechen." 

Ich konnte nicht richtig herausfiltern, was er gerade dachte, aber er schien seine Argumente abzuwägen. 

"Warum?", fragte er dann zu meiner Verwunderung und ich stand auf, bevor ich mich zu ihm gesellte und wir gemeinsam weitergingen. 

"Es ist mein Bauchgefühl", gestand ich ihm, "Es gibt mir einfach keine Ruhe... Vielleicht mag es komisch klingen, aber es ist einfach eine Sache, die ich brauche, um mich zu vergewissern, dass es nichts gibt, was mich beunruhigen muss." Ich blickte zu ihm, während er sich das Klemmbrett unter den Arm heftete.

"Meinetwegen", mir blieb fast die Luft weg. Okay, damit hatte ich nicht gerechnet... "Aber gib mir nicht die Schuld, wenn es in die Hose geht." Ich nickte einfach nur, bevor ich mich leicht verbeugte und davoneilte.

Irgendwie wollte ich nicht, dass er sah, wie sehr ich mich darüber freute.

Stattdessen versuchte ich, meine Aufgaben weiter zu erfüllen. Ich nahm die zwei Tabletts, die ich vorbestellt hatte und machte ich mich dann auf den Weg zu Yura-chan. 

Sie lachte leise, als ich mich in ihr Zimmer turnte. Es war nie eine gute Idee, beide Hände vollzuhaben, während man versuchte, die Tür aufzumachen.

"Zimmerservice!", kündigte ich mich an und sie grinste, als ich die beiden Portionen abstellte. Für einen kurzen Moment glaubte ich, dass ihre Augen ein wenig größer wurden.

"Dann wollen wir mal zusammen Mittag essen, oder?", ich ließ mich neben ihr nieder und richtete das Mahl an. 

Zu meiner Überraschung nickte sie plötzlich tatkräftig. Ich sah zu, wie sie die Stäbchen in die Hand nahm und begann, ihre Portion gierig zu verschlingen. Dann griff ich selber zu meinen Stäbchen und begann, die Krankenhauskost in mich zu schaufeln. Mein Magen, der schon die ganze Zeit geknurrt hatte, bedankte sich bei mir.

Yura-chan aß ihr Tablett komplett leer. Ich war freudig überrascht, wunderte mich aber auch. 

Es hegte sich mir ein Verdacht, den ich aber erst noch überprüfen musste.

Laut Obiki war sie erst vier Jahre alt - ein Alter, das nicht zu unterschätzen war.

Ich unterhielt mich noch kurz mit der Kleinen und stellte ihr nebenbei noch ein paar Fragen, die sie freudig beantwortete. 

Sie war wirklich sehr lebhaft. Trotz der Situation war sie ein kleiner Sonnenschein, der sich nicht unterkriegen ließ.

Man musste einfach lächeln, wenn man sie sah. Ich hoffte, dass sie bald nach Hause durfte.

"Bis bald, Yura-chan!", sagte ich zum Abschied und sie winkte mir zu. 

"Bis bald, Ayuna-san!", rief sie mir hinterher, während das Geschirr auf den vorgesehenen Wagen packte, dann machte ich mich auf den Weg zum Aufenthaltsraum.

Jetzt noch eine Patientin, dann hatte ich Feierabend.

Ich war mir sicher, dass sich das ersehnte Ende aber noch ein wenig ziehen würde.


The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now