Ein Hauch von Sehnsucht

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Man erzählte mir, dass ich mehrere Tage von einem starken Fieber geplagt worden war.

Woran es gelegen hatte? Das wussten sie nicht genau. Ann, und eine Ärztin, welche sich dem Beach zu Verfügung gestellt hatte, vermuteten, dass es mit dem Stress und dem Nahtod zu tun hatte. In diesen drei Tagen hatte ich nicht sonderlich viel mitbekommen. Hin und wieder hatte ich Stimmen gehört, ich hatte auch mit anderen Personen gesprochen, doch ich wusste nicht, wer da gewesen war und was ich überhaupt gesagt hatte. Es war benebelt und damit einfach nicht abrufbar.

Am fünften Tag durfte ich die provisorische Klinik endlich verlassen. Ich konnte es gar nicht abwarten, denn dort unten hatten andere gelegen, die vor lauter Schmerzen ziemlich wehleidig waren. Verständlich, wenn einem ein Bein abgerissen worden war... Einfach nur gruselig.

Richtig viel Erholung hatte ich also nicht gehabt, was sich bemerkbar machte. Meine Glieder fühlten sich schwer an...

Ich freute mich also auf eine weitere Mütze Schlaf, daraus wurde aber leider nichts. Denn als ich auf den Flur einbog, wo sich mein Zimmer befand, sah ich eine ganz bestimmte Person vor meiner Zimmertür stehen. Da Ayumi mit dem Rücken zu mir stand, sah sie mich nicht. 

Ich machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete förmlich. In meinem Zustand war ich gerade nicht in der Lage, mich von ihr terrorisieren zu lassen.

Mein Weg führte mich zurück aufs Dach, wo ich mich wieder nah an der Kante niederließ und die anderen Menschen beobachtete.

Irgendwie erinnerte es mich wieder auf unsere Begegnung, die Chishiya und ich hier gehabt hatten. Ich hatte es scheußlich gefunden, wie er mir auf den Zahn gefühlt hatte. Er hatte mich hier zum ersten Mal so richtig in die Enge getrieben- und ich hatte ihn dafür gehasst, ohne auch nur über die Worte nachzudenken.

Eine Zwickmühle. 

Ich hatte mir vorgestellt, dass ich sicher war, solange ich mich zurückhielt. Ich war noch immer die Ayuna, die ich nicht sein wollte. Die Kontrolle, welche Ayumi noch über mich hatte, sie war enorm. Und ich, Ayuna, hatte in der realen Welt gedacht, dass ich endlich frei gewesen war. Doch - das war ich nicht. Nicht, wenn ich mich nicht wehrte. Sie nutzte meine weiche, verletzliche Seite, wie sie es vor unseren Eltern auch getan hatte. Doch... Vater und Mutter waren nicht hier. Ayumi war meine einzige Gegnerin.

Chishiya hatte Recht, ich war schon längst in einer anderen Zwickmühle gefangen. Der Vorstand merkte, dass ich nicht dumm war. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatten sie Ayumis Schwindel entlarvt. Wer weiß, vielleicht würde es Konsequenzen haben. Und es war klar, dass mein doppeltes Abbild die Initiative ergreifen würde, mich schuldig zu sprechen. Sie würde alles auf mir abladen - obwohl sie mein Leben gestohlen hatte. Doch ich war es satt, ich wollte nicht mehr der Esel sein, der alle Schuld auf sich nehmen würde.

Er hatte Recht gehabt und ich hatte ihm nicht geglaubt, weil der Hass zu groß gewesen war. Dabei war es nicht einmal der Hass auf ihn gewesen - nein - es war der Hass, den ich gegen mich selbst verübte. Ich hatte ihm nicht zugehört, weil er eine Seite von mir angesprochen hatte, die ich selbst verachtete.

Und jetzt? Jetzt war es anders. Ich hatte nicht mehr nur ein arrogantes Arschloch in meinem Gedächtnis, sondern auch einen sanften, intelligenten jungen Mann.

Eine sanfte Gänsehaut überzog meinen Körper und ich spürte eine kurze, leichte Sehnsucht. Ich wünschte mir für einen Moment, dass seine warmen Hände noch einmal über meinen Körper streichen würden, dass wir erneut einen unbeschreiblichen Rhythmus fanden, der alles andere vergessen ließ.

Doch so schnell der Gedanke gekommen war, desto schneller verging er auch wieder. Scham ersetzte die Wärme, die sich in mir ausgebreitet hatte. 

Verdammt, warum musste ich gerade jetzt daran denken!?

Ich lehnte mich zurück und versuchte, mich auf den Sonnenuntergang zu konzentrieren, der sich langsam ankündigte. In jenem Moment hörte ich die Tür zufallen.

"Du bist also hier", die Stimme jagte mir eine Gänsehaut über den Körper, ich verfiel in eine Starre. 

Was jetzt... WAS JETZT!? 

Ich war nicht darauf vorbereitet, wieder mit ihm zu sprechen! Wir, ich - oh man, es war alles so kompliziert!

Er ließ sich nicht beeindrucken und ließ sich neben mich auf die Dachkante fallen. Dann hielt er mir etwas hin. Es war ein blaues Armband. "Das ist von Hatter", meinte er nur und ich betrachtete die Zahl.

10.

Ein ziemlich großer Sprung, Eine Zahl weniger und ich saß im Vorstand, der Mann schien Vertrauen in mich zu haben. Dieses Vertrauen konnte mir viel nützen, wenn ich es richtig einsetzte. 

Ich bemerkte Chishiyas Blick auf mir. Doch es war nicht unangenehm. Irgendwie war es nicht mehr der Blick, mit welchem er mich vorher angesehen hatte. 

"Ist was?", wollte ich wissen, als ich meine Kiemen endlich auseinander kriegte. Er grinste. 

"Mmmh, nein. Ich hatte nur eine andere Reaktion erwartet", er blickte gerade nach vorne, "Aber bei dir kann man so schlecht einschätzen, was du als Nächstes machen wirst."

"Ist das gut oder schlecht?", wollte ich von ihm wissen, als ich mit dem Armband spielte. Er zuckte nur mit den Schultern. 

"Sowohl als auch", er winkelte sein rechtes Bein an, "Es macht dich stärker, doch... es lässt andere auch Fragen stellen, die einem in den Wahnsinn treiben." Sprach er gerade von sich selbst? Oder hatte ich die Worte einfach nur falsch aufgefasst? Der Typ liebte es, es unnötig kompliziert zu machen.

Er sah mich wieder an. "Ich bin gespannt, was du aus der Situation machst, Ayuna", dann schwiegen wir. Ich wagte es nicht, etwas zu sagen, da es so aussah, als ob er die Stille genoss. Wenn ich ehrlich war, genoss ich es auch.

Ich war auf einmal viel entspannter, als er gekommen war.

War das schon immer so gewesen? Was war nur bloß los, was hatte sich verändert...

Ich wollte nicht so reagieren, aber machte es trotzdem. Irgendwie wollte er mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er hatte sich in meinen Gedanken verankert, ja, ich würde ihn sofort sehen, wenn ich die Augen schloss.

Chishiya Shuntaro, du bist mir ein einziges Rätsel. Ich weiß nicht viel über dich und trotzdem hast du mich auf einmal in deinen Bann gezogen. Ich hatte dich versucht zu verachten, jetzt auf einmal nicht mehr. 

Ich hasste dich nicht, aber was war es dann? Es waren keine neutralen Gefühle, dass konnte ich mir gerade noch so denken.

War es... Liebe? Zuneigung? Wenn ja, war ich ein hoffnungsloser Fall. Auf keinen Fall würde er diese Emotion erwidern, geschweige denn jemanden wie mich lieben. Ich war nicht einmal ansatzweise so begabt wie er. Ich würde ihn nur bremsen.

Neben mir regte er sich plötzlich. Er war aufgestanden. Ohne ein Wort verließ er das Dach und ließ mich alleine zurück.

Ich war verwirrt, mein Herz schmerzte.

Ja, ich war wirklich ein hoffnungsloser Fall.

Seit wann konnte Zartbitterschokolade süß sein? Es war unmöglich.

Und deshalb würde ich es nie verstehen.



The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now