Die allwissenden Augen

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Die Wellen kräuselten sich sanft vor meinen Füßen und ließen eine dunkle Spur im Sand zurück, als sie sich zurückzogen.

Schon verrück, wie ruhig es hier doch sein konnte.

Keine Spiele, keine Laser, keine sterbenden Leute. Tokio war eine menschenleere Stadt, weit und breit war niemand zu entdecken. Und doch lauerten sie in den Schatten, alleine oder in kleineren Gruppen.

Ich hatte ab und zu ein paar bekannte Gesichter vom Beach gesehen, als ich auf Nahrungssuche gegangen war. Wir hatten uns nur zugenickt, dann waren wir unsere eigenen Wege gegangen. So war es nun: Eine große Utopie war zerstört worden - die Rudeltiere hatte man auseinandergerissen...

Vorsichtig steckte ich die Kerze in den Sand und zündete sie dann mit einem Streichholz an. Genau so, wie ich es die letzten Tage auch getan hatte.

Ein Ritual, das ich nur ihr widmete.

Sonst fühlte ich schuldig. Ich vermisste Sakusa noch immer sehr. Wie es wohl gewesen wäre, wenn wir nun beide hier am kleinen Strand gesessen hätten? Dann wäre ich wenigstens nicht so alleine gewesen.

Ich sah zu, wie die Kerze aufflammte und lehnte mich dann zurück, um die Szenerie ein wenig zu genießen.

Irgendwie komisch.

Es war eine Welt, die darauf ausgelegt war, dich zu töten. Ich wusste, dass sie eigentlich kein Erbarmen mit uns hatte. Also warum war es dann jetzt so ruhig? Was verbarg sich im Hinterhalt? Ich wusste, nein, dachte mir, dass wir beobachtet wurden. Sie überwachten jeden Schritt, den wir machten.

Es gab in dieser Welt allwissende Augen - Augen, die die Wahrheit kannten.

Tausend Fragen und doch keine Antwort. Allerdings fragte ich mich auch, ob ich bereit dazu war, eine Antwort zu bekommen. Es war, als hätte ich ein Puzzle begonnen, aber nur ein Achtel davon zusammenbekommen.

Ich erhob mich vom Sand und versuchte, meine Hose halbwegs sauber zu bekommen. Ich ahnte schon, dass es nachher zwicken würde, da Sandkörner auf wundersame Weise zwischen Stoff und Haut gekommen waren... Genau wie die letzten Tage.

Seufzend sah ich noch einmal zur Kerze, dann auf die Wasseroberfläche, wo sich mein Spiegelbild befand. Ich sah fürchterlich aus...

Kein Wunder.

Ich hatte kaum geschlafen. Wie auch, ich hatte alle Hände voll zu tun gehabt - durch Beach hatte ich komplett vergessen, wie schwer es doch eigentlich war, alleine zu überleben.

Alle Erlebnisse und Gefühle zusammen waren irgendwie wie ein Tsunami, der versuchte, mich eiskalt in seinen Sog zu ziehen.

Die Spiele, Angst... Chishiya.

Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. So langsam hatte ich mich gefragt, ob ich nicht sogar die falsche Entscheidung getroffen hatte. Das Teufelchen auf meiner Schulter hatte mir die ganze Zeit ins Ohr geflüstert, dass ich so dumm gewesen sei.

Warum hatte ich seine Hand nicht genommen?

Weil es mir nicht gut getan hätte.

Ich wäre innerlich zerbrochen, das wusste ich. Ich kannte mich, meinen Körper und meine Seele. Ich wusste, dass ich es nicht ausgehalten hätte, aber gerade das machte es noch viel schmerzlicher. Es ließ mich immer mehr daran zweifeln, ob wir überhaupt füreinander bestimmt waren.

Herz und Kopf hatten zwei verschiedene Meinungen. Was war richtig, was war falsch? Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich hatte mir zwar gesagt, dass ich ihm alles erzählen würde, wenn ich ihn das nächste Mal sah. Doch jetzt war ich mir nicht mal so sicher, ob ich das überhaupt durchziehen könnte.

The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now