Die Utopie im Schafskostüm

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Die lauten Geräusche machten mich fast wahnsinnig. 

Ich konnte alles hören, doch nichts sehen, da sich meine Augen einfach nicht öffnen wollten. Sie waren so schwer, es fühlte sich beinahe so an, als würden sie von zwei Betonklötzen zugehalten werden. Was passierte mit mir? Was hatte Hoodie bloß gemeint? Wie... Wo war ich? Sie hatten mich doch nicht mitgenommen, oder? 

Ich kämpfte erneut mit der Übelkeit, die in mir hochstieg. So ging es jetzt schon seit gefühlten Stunden. Und ich konnte nichts dagegen machen.

"Hey Shawty, aufstehen, wir haben nicht ewig Zeit!", diese Stimme... Oh nein. Nein, nein, nein! 

"Lass sie in Ruhe, Niragi. Aguni hat zu fest zugeschlagen, da ist das normal, dass sie nicht gleich wieder aufwacht", eine weibliche Stimme? Ich kannte sie nicht. 

"Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Du hattest Recht, Niragi, ich hätte sie auch verwechselt. Habt ihr Hayashi schon informiert?", diese Stimme war ebenfalls neu. Sie klang ein wenig so, als hätte die Person zu viel getrunken. Ich zuckte zusammen und grummelte, als etwas Kaltes meinen Nacken berührte. 

"Siehst du wohl, da ist schon wieder etwas Leben im Körper!", die Stimme sprach erneut, "Kannst du die Augen aufmachen, Ayuna-chan?" Ich blinzelte. Tatsächlich konnte ich meine Augenlider wieder bewegen, wenn auch nur langsam. 

"Wunderbar, wunderbar! Herzlich Willkommen im Beach! Wir freuen uns, dass du zu uns gekommen bist, Mädchen!", ich musste meine Augen wieder zukneifen, da mich das Licht blendete. Wo zum Teufel war ich? 

"Wo bin ich?", krächzte ich und verschluckte mich sofort. Mein Hals war kratzig und tat weh. Wahrscheinlich vom Rauch... Warte, Rauch! Ich hatte mit Hoodie gesprochen, er hatte mich hergebracht! Und ein Aguni soll mir eine Schelle gegeben haben? 

"Du scheinst noch nicht ganz wach zu sein. Der Hutmacher hat es dir doch gerade gesagt, Shawty! Höre besser zu, oder ich verliere die Geduld. Vielleicht sollte ich dir ja doch lieber eine Kugel durch den Kopf jagen! Würde zumindest schön aussehen, findest du nicht?", ein Gewehrlauf wurde in mein Kreuz gedrückt und ich spürte erneut eine Gänsehaut am ganzen Körper. 

"Reiß dich zusammen, Niragi", jetzt kannte ich also auch seinen Namen. Niragi... Vor ihm musste ich mich hüten. Ich konzentrierte meinen Blick auf die Person, die vor mir stand. Er hatte längeres Haar, trug eine Badehose und einen edlen Bademantel. 

"Sei gegrüßt, mein Name ist Hutmacher, kurz Hatter. Ich bin die Nummer 1 dieser Utopie, genannt Beach! Wir haben hier alles, was du im Borderland brauchst! Betten, Essen, fließendes Wasser, Strom, Alkohol, Sex und noch so viel mehr! Wir haben die Antworten auf die Fragen, die dich so quälen!", er war übernormal fröhlich, es gefiel mir nicht. 

Und was war dieses Gelabere von der Utopie?

"Zeigt ihr die Wand!", befahl er, während ich blinzelte, um die weißen Flecken aus meinem Sichtfeld zu entfernen. Als ich wieder halbwegs normal sehen konnte, bemerkte ich, dass dieser komische Vogel zur Seite getreten war, um mir den Blick auf ein riesiges Bettlaken freizumachen.

Wer war denn auf die Idee gekommen, so etwas als Raumdeko zu nutzen? Ich beugte mich ein wenig vor, um die Zeichnungen genauer zu studieren, welche man darauf fand.

Es waren alle Pokerkarten aufgelistet. Pik, Kreuz, Karo, Herz - wirklich alle von 1-10 und Jack, Königin und König. Einige Karten waren schon durchgestrichen. 

"Wir sammeln die Karten, um zurück in die reale Welt zu finden. Jeder sammelt für jeden. So werden wir das Kartendeck füllen und die erste Person zurückschicken! So lange, bis alle die andere Welt wieder erreicht haben!", er nahm meine Stille als Einladung ein, sein verrücktes System zu erklären, "Wir müssen in so schwierigen Zeiten zusammenhalten! Alle zusammen für einen!" 

Mit einer schwungvollen Bewegung hob er die Hand: "Siehst du diese Armbänder? Sie zeigen, an welcher Stelle du stehst." 

Klar, ich verstehe, er war die Nummer eins. War es auch anders zu erwarten gewesen? 

"Wir haben noch nicht viele Karten, aber die Anzahl wächst stetig! Jeder darf uns beitreten! So auch du. Eine Maus hat mir ins Ohr geflüstert, dass du gute Voraussetzungen für einen guten Spieler hast", er hob die Arme demonstrativ hoch, "Es gibt auch nur drei Regeln: 1. Du musst Schwimmbekleidung tragen. So ist es schwer, auch nur irgendetwas zu verstecken. Verstehst du?" Er lachte schallend und ich wusste, dass ich aus diesem Loch nicht mehr herauskommen würde. 

"2. Du darfst dein Leben leben, wie du es willst. So viel Alkohol, Sex und was dir auch begehren sollte. Mach, was du machen willst. Und 3. - Die für mich wichtigste Regel - Tod für jeden Verräter. Sollten wir herausfinden, dass du Karten vor uns versteckt hältst, bist du tot", er kicherte, "Danke übrigens." 

Er hielt meine Herz 3 Karte hoch und kicherte idiotisch. Ich riss die Augen auf. Wie war er bitte an diese Karte gekommen? "Und, was sagst du? Bist du dabei, Hayashi?", er sah mich aufmerksam an. Ich ließ meinen Blick für einen kurzen Moment schweifen. So viele fremde Gesichter... 

Und dann... Hoodie. Dort stand er und grinste mich blöd an. Er war verantwortlich, hatte mich in diese Situation gebracht. Ich spürte Wut. Wäre ich ihm nicht über den Weg gelaufen, wäre ich wieder in meiner Wohnung! Dann hätte ich mich jetzt nicht mit diesem Irren abfinden müssen...

Dann sah ich zurück zu Hatter. Er lächelte. Doch es schien nicht echt zu sein. 

Nein. 

Er wirkte wie ein Wolf, welcher sich in einem Schafskostüm versteckte. Auf dem ersten Blick wirkte er lieb, unscheinbar und verwundbar. Doch wenn man genauer hinsah, steckte so viel mehr hinter ihm. 

Auch seine Utopie war ebenfalls nur ein Kostüm. Ich wusste, dass ich noch nicht einmal einen Bruchteil des Ganzen kennengelernt hatte, was mich unruhig stimmte. Was spielte sich bloß im Hintergrund ab?

"Es würde mich als einen Verräter abstempeln, sollte ich jetzt nein sagen, oder?", wollte ich ruhig wissen und starrte ihm direkt in die Augen. Eine Lachfalte erschien neben seinem linken Auge. 

"Du hast Humor, Kleine. Sag mir, wie alt bist du?", wollte er wissen und ich senkte den Blick erneut. 

"Ich werde dieses Jahr einundzwanzig", erwiderte ich und er nickte. 

"Nun, ich nehme deine Antwort als ein Ja. Nochmals Willkommen! Und.... YEAH Leute! Herz 3! Diese Karte fehlt! Du hast dir einen guten Start verschafft, Mädchen!", sein Jubel... Es war einfach nur gruselig. 

Ich wollte mich erheben und den Raum verlassen, doch erst jetzt merkte ich, dass ich gefesselt war. Na super. "Oh, das habe ich ja ganz vergessen! Mach sie los, Last Boss, sie wird nicht weglaufen", Hatter wandte sich von mir ab und ich rieb meine wunden Handgelenke. In diesem Moment klopfte es. 

"Herein?", rief die Nummer eins. Die Tür öffnete sich und ich sah blondes Haar. Mein Herz rutschte in die Hose. Ich hatte Recht gehabt, meine Vermutung hatte sich bestätigt. Sie war hier. Die Person, die ich am wenigsten sehen wollte. Sie warf mir einen Blick zu und... sie erstarrte ebenfalls. Doch ihr Grinsen blieb ihr erhalten. Auch wenn es nicht mehr echt war.

"Mensch, wenn das nicht mal eine Überraschung ist, Ayuna! Schön dich zu sehen, Schwester!"

Man konnte förmlich spüren, wie die Bombe im Raum explodierte.


The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now