Gegen alle Erwartungen

321 25 0
                                    

Ich spürte ein unangenehmes Kribbeln, als ich das Wohngebäude betrat.

Gefühle prallten aufeinander und verursachten ein Chaos, was ich nicht ordnen konnte.

Ich hoffte, dass er da war - ich wünschte es mir vom ganzen Herzen. Ich wollte nicht alleine sein, er gab mir das, was mir irgendwie mein ganzes Leben gefehlt hatte.

Ruhe und Ordnung.

Bei ihm fühlte ich mich sicher, er sah mich als eine ganze Person an.

Das Treppensteigen fiel mir unendlich schwer. Ich machte mir falsche Hoffnungen, die sich schwer auf meine Schultern legten.

Stufe für Stufe, Stockwerk für Stockwerk und dann... dann war ich angekommen.

Meine Hand legte sich behutsam auf die Türklinke, ich zögerte kurz, bevor ich vorsichtig die Tür öffnete.

Es war komplett still in der Wohnung - die Stille trieb mir eine Gänsehaut auf den Rücken.

Er war nicht mehr da, oder?

Aus Angst, laute Geräusche zu machen, schlich ich durch den Flur.

Als ich allerdings das Wohnzimmer betrat, verflüchtigten sich all meine Sorgen schlagartig.

Dort lag er - auf der Matratze, die wir zusammen ins Wohnzimmer gehievt hatten und schien zu schlafen. Sein Gesicht verzog sich hin und wieder, also musste er träumen.

Die innere Ruhe kehrte zurück und ich ließ mich auf das Sofa fallen, um ihn nicht zu wecken. Einen solchen Anblick von Chishiya erhielt man nur selten bis gar nicht. Ich versuchte, das Bild tief in meinen Erinnerungen zu speichern.

Seine geschlossenen Augen, der Mund, welcher sich mal nicht zu einem spöttischen Grinsen verzogen hatte... Er sah verletzlich aus - und ich vermutete, dass er versuchte, diese verletzliche Seite vor jedem zu verstecken, aus Angst, alles verlieren zu können.

Chishiya, was verbirgst du hinter deiner Fassade?

Ich lehnte mich zurück und streckte meine müden Glieder aus. Die nächsten Tage müsste ich mir ein paar neue Klamotten besorgen, meine waren bei dem Spiel von Blut getränkt worden und ich hatte keine Lust, mit einem Loch in der linken Seite herumzulaufen.

Jetzt stellte sich nur noch die Frage, was ich dem Mann vor mir erzählen sollte: ließ ich Details weg, erzählte ich nichts oder alles?

Vielmehr stellte ich mir die Frage, wie er reagieren könnte. Wenn ich ehrlich war, hatte ich Angst, von ihm ausgelacht zu werden. Ich wusste, dass ich mir die Wunde selbst zuzuschreiben hatte, es war ein dummer Fehler gewesen. Und trotzdem wollte ich mir das nicht noch einmal unter die Nase reiben lassen. Es hatte gereicht, dass Joshua es getan hatte.

Aber wie ich Chishiya kannte, würde er eh herausfinden, dass irgendetwas passiert war. Eigentlich würde es mich schon interessieren, wann er es bemerkte.

Ich lenkte meinen Blick zurück auf den Mann, der plötzlich zu ruscheln begann. Wahrscheinlich dauerte es nicht mehr lange, bis er aufwachte. Also sah ich zu, wie er langsam die Schlafphasen wechselte.

Und dann schlug er die Augen auf. Seine braunen Pupillen scannten den Raum, bis sie bei mir hängen blieben. Er runzelte die Stirn, bevor er sich aufsetzte und seine müden Glieder streckte. "Wann bist du denn zurückgekommen?", wollte er leise wissen und ich zuckte mit den Schultern.

"Keine Ahnung, ich hab seit geraumer Zeit kein richtiges Zeitgefühl mehr. Aber lange bin ich noch nicht hier", antwortete ich langsam und er ließ seine Augen über mich wandern. Wahrscheinlich versuchte er, sich einen Überblick über meinen Zustand zu machen. Es fühlte sich an, als wäre meine Kleidung auf einmal durchsichtig. Hitze stieg in meinen Nacken und eine Art von Unwohlsein überkam mich.

"Wo bist du gewesen? Das Luftschiff ist schon gestern Abend zu Bruch gegangen", übersetzt bedeutete es so viel wie 'Ich habe gedacht, dass du gestorben wärst'. Ich sah zu, wie er sich von der Matratze erhob und zum Fenster trottete. Seine Haare waren noch immer ein wenig verstrubbelt.

Jetzt lag es an mir. Die Entscheidung war fällig, was erzählte ich ihm?

"Ich habe alte Bekannte getroffen", er warf mir einen seiner Blicke zu, "Sagen wir es so. Aguni hat überlebt. Er zieht nun zusammen mit einer jungen Frau namens Heiya Akane durch die Stadt, mit dem Ziel, den Pik König zu besiegen." Er schien die Informationen zu verarbeiten.

"Außerdem habe ich Usagi getroffen. Sie ist leider von Arisu, Kuina und Ann getrennt worden. Tatta hat es nicht geschafft, er ist beim Kreuzkönig gestorben", fügte ich hinzu, "Kuina ist auf der Suche nach uns."

Er drehte sich zu mir. "Und davor? Was war es für ein Spiel?", wollte er weiter wissen und ich schluckte. Auf einmal stand ich in einem Feld voller Reißzwecken. Ein falscher Schritt und ich würde es bitter bereuen.

"Nun... Es war der Pik Bube, das wusstest du aber bereits. Das Spiel hieß Königsfrei. Es funktionierte ähnlich wie das bekannte Schulhofspiel", verdammt, ich glaubte, er merkte, dass da noch etwas im Busch war. Lange würde ich seinem Blick nicht standhalten können, also stand ich auf. Ich war zwar noch nicht lange hier, aber ich brauchte dringend frische Luft, sonst wurde ich noch verrückt.

"Ich ziehe jetzt los. Wir brauchen noch etwas zu Essen und ich möchte mir neue Kleidung holen", redete ich mich geschickt aus der Situation raus und steuerte dann den Eingangsbereich an.

"Du humpelst", hörte ich ihn noch sagen, bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

Chishiya, du hast einen Rekord aufgestellt. Ich hätte echt nicht gedacht, dass du so schnell etwas merkst. Vielleicht schätzte ich dich auch einfach falsch ein?

Langsam stieg ich die Treppe hinunter und schlenderte dann die Straße entlang. Hin und wieder blieb ich vor Geschäften stehen und fand dann auch schließlich, wonach ich suchte.

Es dämmerte bereits, als ich mich auf den Rückweg machte. In der Ferne ertönte ein Knall und ich sah, wie das Luftschiff des Karo Buben versenkt wurde. Ein Spiel weniger, was vor einer möglichen Erlösung stand.

Das Apartment kam wieder in Sicht, gleich würde ich dem jungen Mann wieder unter die Augen treten. Ob er überhaupt noch da war? Vielleicht ging er ja auch wieder spielen, zutrauen würde ich es ihm.

Eine Lichtreflexion riss mich aus meinen Gedanken und lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine Person. Sie stand im Schatten eines Hauses und schien mich zu beobachten.

Ich erkannte sofort, wer es war. Mein Blut gefror mir in den Adern, auf einmal konnte ich mich nicht mehr bewegen. Nie hätte ich gedacht, dass sie es doch geschafft hatte. Doch jetzt stand Ayumi dort, ihre Augen musterten mich abfällig.

Hab keine Angst mehr, Ayuna. Sie kann dir nichts tun, du bist stärker, schon vergessen?

Also riss ich mich zusammen und blickte ihr direkt in die Augen.

Eisblau zu Giftgrün.

Sie war es, die sich als erstes abwandte. Mit schlurfenden Schritten trottete sie davon, ich beobachtete sie ganz genau dabei.

Es sollte mir eine Warnung gewesen sein. Ich durfte jetzt nicht unvorsichtig werden, sonst schlugen sie - und auch andere vielleicht zu.

Noch war es nicht vorbei, aber ich würde nicht aufgeben!

Meine Vergangenheit konnte nicht mehr reingewaschen werden, doch noch war meine Zukunft nicht versaut!

Ich würde Ayumi endlich schlagen, koste es, was es auch wolle!

The Winners Take It All | ChishiyaΌπου ζουν οι ιστορίες. Ανακάλυψε τώρα