Der eigene Schatten ist ein mieser Verräter

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Ich konnte die Begegnung den ganzen Tag lang nicht vergessen.

Chishiya.

Der Name klang vertraut - er löste einen Schmerz in meinem Herzen aus, den ich nicht beschreiben konnte.

"Hayashi-san?", mein Professor sprach mich anscheinend schon zum zweiten Mal an. 

Verdammt, meine Gedanken... Ich musste mich endlich wieder auf die Wirklichkeit konzentrieren! 

"Entschuldigen sie, Denjira-san. Ich bin noch immer nicht ganz in meinem Normalzustand angelangt", log ich, während ich ein breites Lächeln aufsetzte. Der ältere Mann lachte leise. 

"Es ist vollkommend nachvollziehend. Nicht jeder kann eine so aussichtslose Lage überleben. Sie haben wirklich großes Glück gehabt. Nicht viele Studenten, die von dieser Universität ebenfalls betroffen waren, hatten das gleiche Glück wie Sie", ich sah ihn an. 

Sprach er gerade wirklich darüber, dass noch weitere Studenten betroffen gewesen waren? Gut, es sollte mich eigentlich nicht allzu sehr überraschen, da fast ganz Tokio von dieser Katastrophe betroffen worden war, aber trotzdem... es fühlte sich beinahe schon unreal an.

"Aber ich gehe mal davon aus, dass Sie nicht deswegen zu mir gekommen sind, oder?", wollte er schließlich von mir wissen und ich fokussierte meinen Blick auf ihn.

"Genau", ich gab ihm ein Dokument, welches ich im Krankenhaus bereits vorbereitet hatte, "Ich würde gerne mein Major ändern. Während der letzten Zeit ist mir bewusst geworden, dass die Kriminalpsychologie doch nicht so wirklich etwas für mich ist. Viel lieber möchte ich mich mit der medizinischen Psychologie befassen." Er lehnte sich ein wenig zurück und musterte mich prüfend. 

"Was lässt Sie so denken, Hayashi-san?", fragte er mich und es war, als würde er mir einen Dolch ins Herz stechen.

Ja... Warum war es so? Was ließ mich-

Meine nackten Füße betraten die Brücke. Die Brise sorgte für eine Gänsehaut. Außer dem weißen Sommerkleid, welches ich mir bereitgelegt hatte, hatte ich nichts an.

Hatte man mir deshalb nur Kleider bereitgelegt? Um mir den Tod ein wenig zu versüßen?

Es war wie im Film, wo sich die junge Frau mit einem schlichten, weißen Kleid in den Tod stürzte. Es sah so wunderschön aus, wenn sie es taten. Und jetzt... jetzt würde ich es auch tun. Ich würde mich von der Brücke stürzen, dann einen Moment fliegen und durch den Aufprall ohnmächtig werden. Ich würde ertrinken, ohne es mitzubekommen.

W-Was war das denn? 

Warum kam mir auf einmal so ein Bild vor die Augen? D-Das hatte ich nie erlebt... Aber warum war es so klar? Warum fühlte es sich so an, als wäre ich schon einmal genau in dieser Situation gewesen? 

Es jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Der Sinn des Lebens, seine Verwerflichkeit.

Es waren Worte, die dieses schreckliche Bild auf einmal ersetzten.

Für jeden Menschen gab es einen Sinn, das Leben zu leben. Er war von Person zu Person unterschiedlich. Gerade deshalb war es wichtig, zu verstehen, wie jemand anderes zum Leben stand. Jeder hatte es verdient, ein Leben zu leben. Und ich wollte helfen. 

Ich wollte denen helfen, die ihren Sinn vielleicht verloren hatten. 

Es war eine Sehnsucht in mir, die mich so entscheiden ließ. Auf einmal wusste ich, was ich meinem Professor antworten sollte.

"Das Leben ist kostbar. Manche vergessen es, andere entscheiden sich bewusst dafür, es zu ignorieren. Ich möchte verstehen, helfen und erkennen - ich möchte andere mit ihren Problemen nicht alleine lassen, meine Hilfe soll sie aus dem tiefen Loch ziehen, welches sie alleine nicht mehr verlassen können... Ich will ein Hafen in der Hölle sein", hörte ich mich sagen. 

Denjira sah mich an, er drückte seine Brille ein wenig enger auf die Nase.

"Nun. Von meiner Seite spricht nichts dagegen. Du bist schon immer eine fleißige Schülerin gewesen, da wirst du dich mit Sicherheit in der anderen Richtung schnell einleben können. Ich muss natürlich fragen, wie meine Kollegen zu diesem Wechsel stehen. Da du so viele Vorlesungen und kleinere Prüfungen verpasst hast, kann es gut passieren, dass eine Ersatzleistung fällig wird. Bei einem Wechsel ist das eine starke Herausforderung", er räusperte sich, "Bist du trotzdem bereit, diese Hürden zu überwinden?"

Ja, das war ich. Ich wollte endlich tun, was ich für richtig hielt.

"Ich bin bereit, diesen Weg zu gehen, ja", erwiderte ich und er lächelte. Dann schüttelten wir uns die Hand. 

"Ich bin erfreut. Deine Denkweise gefällt mir, ich bin wirklich begeistert", er nickte mir anerkennend zu.

Ich dachte anders - ich sah die Welt auf einmal mit anderen Augen. 

Es war verrückt.

Es war, als wäre ich über meinen eigenen Schatten gesprungen, als hätte ich ein neues Ich entdeckt. 

Doch wie sagte man noch? Der Schatten konnte auch ein mieser Verräter sein. Er kam zurück, ohne, dass man es vielleicht bemerken würde.

Was ich damit meinte war, dass es mit Sicherheit nur eine Phase sein könnte, auch wenn ich mir da nicht so sicher war.

"Wir werden Sie kontaktieren, Hayashi-san", informierte Denjira-san mich und ich nickte dankbar, bevor ich von meinem Platz aufstand und mich verbeugte. Dann konnte ich das Büro endlich hinter mir lassen.

Jetzt hatte ich nur noch das Problem mit der Wohnung. 

Geld war da, ich hatte von der Regierung Schmerzensgeld erhalten und ein Teil des Erbes meiner Großmutter war auch vorhanden. Nur leider war gut ein Viertel von Tokio mit dem Meteoroiden weggepustet worden, was bedeutete, dass auch der Wohnraum knapp geworden ist.

Lange würde ich es bei meinen Eltern auf jeden Fall nicht mehr aushalten. Sie waren auf einmal anders, sie behandelten mich so, wie ich es mir immer gewünscht hatte. 

Doch... erstaunlicherweise wünschte ich mir, dass es anders wäre. Ich wollte die dämliche Zuneigung nicht haben. 

Sie waren meine Erzeuger, mehr waren sie nicht für mich. Ich wollte so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben. Das wir nun wieder in einem Haus wohnten, passte nicht so wirklich in meine Pläne hinein.

Also: Suchen, Suchen und Suchen.

Mein Handy vibrierte erneut. Ich schaute drauf, nur um es wieder in die Tasche zu stecken. Wenn man vom Teufel sprach, meine Mutter versuchte mich anzurufen. Wer weiß, was sie schon wieder wollte. Sollte sie auf dem Gespräch sitzen bleiben, es interessierte mich nicht.

Sie sollten mich in Ruhe lassen.

Warum trauerten sie nicht? War es ihnen egal, dass ihre geliebte Tochter verstorben war? 

Selbst die Beerdigung war nur im kleinen Kreise gehalten worden, ich hatte nicht anwesend sein können, da der Termin sich mit meiner Operation überschnitten hatte.

Mit einem kurzen Blick blickte ich auf mein Handgelenk, wo meine Uhr war.

Ich hatte keinen Zeitstress, oder?

Nach Hause wollte ich noch nicht unbedingt.

Das bedeutete, dass ich noch reichlich Zeit hatte, die ich füllen konnte.

Ich verließ das riesige Gebäude und steuerte eine ganz bestimmte Richtung an.

Es würde nicht schaden, wenn ich ihnen einen Besuch abstattete, oder?


The Winners Take It All | ChishiyaDär berättelser lever. Upptäck nu