Die Macht der Gefühle

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Zimmer 205.

Sarumi Asami bewohnte diesen Raum nun seit zwei Wochen - ohne wirkliche Aussicht auf Besserung. Sie aß nicht, trank nicht, schlief nicht und war stets aggressiv.

Ich hatte ihre Akte durchgelesen, die Chishiya mir nach Nachfrage herausgekramt hatte. Sie war in Behandlung bei mehreren Psychologen gewesen.

Genau, das Wort stand in Mehrzahl. Das sechzehnjährige Mädchen hatte die Psychologen gewechselt, wie manche es mit ihrer Unterwäsche taten. Okay... Das war vielleicht ein schlechter Vergleich.

Aber es war die Aussage, die man beachten müsste.

Sie verweigerte die Behandlung regelrecht. 

Das erklärte ihren Ausraster.

Zaghaft klopfte ich an die robuste Zimmertür und trat ein, auch wenn ich keine Antwort bekam.

Sie lag noch immer am selben Platz, nur ihr schwarzes Haar war zu erkennen, welches unter der Decke herauslugte. Ich schloss die Tür wieder und schlenderte langsam zum Fenster, welches ich dann auch schließlich öffnete. 

Langsam wurde es Zeit, dass ein wenig frische Luft hereinkam.

"Raus", die raue Stimme ließ mich zu ihr blicken. Zwei braune Augen blickten mich an, es sah aus, als würde sie mir am liebsten mehr an den Kopf werfen, weshalb ich mich ein wenig anspannte.

"Es ist ein wunderschöner Tag, findest du nicht?", fragte ich einfach, um ihre Aufforderung zu ignorieren. Ich durfte nicht zurückschrecken, dann war alles umsonst. 

"Hast du mich verstanden? Verlasse mein Zimmer!", rief sie nun fast und ich lehnte mich an die Fensterbank. Sie funkelte mich an, doch ich konnte noch eine weitere Emotion in ihren Augen erkennen. Ich hatte bei unserem ersten Treffen Recht gehabt.

Sie hatte Angst.

Wovor, das wusste ich noch nicht. Aber ich wollte es herausfinden, ich wollte ihr die Last von den Schultern nehmen, die dort zu weilen schien. Allerdings musste ich erst einen Weg finden, wie sie mich an sich heranließ. Bis jetzt duldete sie nur Chishiya in ihrer Nähe, ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich noch nicht wieder abgeworfen worden war.

"Mein Name ist Hayashi Ayuna, du kannst mich aber gerne beim Vornamen nennen, Sarumi-chan", stellte ich mich vor, um die peinliche Stille zu brechen, die uns nun umgab. 

"Zur Hölle mit deinem Namen", erwiderte sie fauchend und ich sah zu, wie sie sich wieder unter ihrer Bettdecke versteckte.

Ein Fortschritt, oder?

Ich drehte mich wieder zum Fenster, wo ich in den blauen Himmel blickte. Jetzt, wo ich länger in diesem Raum gestanden hatte, erinnerte sie mich immer mehr an mich - an die Zeit, wo ich in den tiefsten Löchern gewesen war.

"Weißt du, es gab da eine Person in meinem Leben, die sehr Weise gewesen ist", ich holte ein wenig Luft, "Sie hat mir immer Geschichten von der großen, weiten Welt erzählt, als ich noch klein gewesen bin. Ich möchte gerne eine dieser Geschichten mit dir teilen."

Ich hörte ihre Atmung. Sie machte keine Anstalten, mir eine Antwort zu geben, ich hatte aber auch keine erwartet.

"Es war einst ein kleines Mädchen, das einen großen Traum hatte. Doch niemand wollte sie unterstützen, da dieser Traum etwas Kindliches an sich hatte. Sie wünschte sich nämlich, so schnell wie der Wind laufen zu können. 

Die Erwachsenen konnten es nicht nachvollziehen, sie versuchten alles, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. 'Du wirst dieses Ziel niemals erreichen', sagten sie, 'Kümmere dich um das, was wichtiger ist!' Doch sie wollte den Menschen nicht zuhören, sie wollte nicht für das kritisiert werden, was sie sich wünschte."

Ich hörte ein leichtes Ruscheln in ihrem Bett. Sie hatte sich umgedreht, lag nun mit dem Gesicht zu mir, auch wenn sie noch immer unter ihrer Decke war.

"Als sie nicht mehr ertragen konnte, was sie ihr sagten, floh sie aus ihrem Dorf. Sie lief in den Wald, wo sie sich schon immer am wohlsten gefühlt hatte. So lief sie und sah nicht zurück. '

Ich bin ein freier Mensch', sagte sie sich immer wieder, je weiter sie sich ihrem Zuhause entfernte. Sie spürte eine Kraft, die sie zuvor nie erlebt hatte."

Ich musste leicht lächeln, als ich eine kurze Pause machte. Nana hatte mir diese Geschichte erzählt. Es war eine meiner Lieblingsstorys gewesen.

"Sie traf auf die unterschiedlichsten Tiere. Und dann lief ihr ein Hase über den Weg, der sie mit großen Augen ansah. Das Mädchen fragte das kleine Geschöpf, warum es sie so anstarrte, da antwortete es: 'Ich sehe ein Licht in dir, dass so hell ist, wie die Sterne bei Nacht.' 

Verwundert lief das kleine Kind weiter, nur um auf ein Reh zu treffen. Wieder wurde sie angestarrt, auf die gleiche Frage antwortete es: 'Ich sehe ein Licht in dir, dass so grell ist wie die Sonne bei Mittag.' 

Sie lief weiter, nur, um auf einen Fuchs zu treffen, welcher sie ebenfalls beobachtete. Er antwortete: 'Ich sehe ein Licht in dir, dass so silbern ist, wie der Mond am Nachthimmel.'

Das Mädchen hatte Angst, es fühlte sich angegriffen und verstand nicht, was man ihr sagen wollte. Die Nacht brach ein, sie irrte durch die Dunkelheit, nur, um auf einen großen Wolf zu treffen. Das Tier schien ihr nichts tun zu wollen, also wurde sie mutig und stellte ihm eine Frage: 'Herr Wolf! Siehst du ein Licht in mir? Eines, dass so hell ist wie die Sterne, so grell ist wie die Sonne und so silbern wie der Mond?' Der Wolf schüttelte seinen großen Kopf. 

'Ich sehe in dir ein Licht, es ist hell und kräftig. Es ist dein Wille, deine Stärke, dein Mut.'

Da realisierte das Mädchen etwas. Sie verstand, was die Tiere ihr hatten sagen wollen. Dankend drehte sie sich um, grüßte das Tier und verschwand zwischen den Bäumen. Dann rannte sie, sie rannte so schnell wie der Wind.

Sie hatte verstanden, dass sie nicht davonlaufen konnte. Sie musste sich stellen, ihrem Willen den Mut und die Stärke geben, nur, um endlich die wahre Freiheit zu erkennen. Nur dann konnte ihr Traum in Erfüllung gehen. Sie wollte schnell sein, dem Wind folgen und den Horizont sehen. Sie konnte nicht einfach eine Lücke nehmen, die sich schnell wieder verschließen würde. Sie musste ein Loch finden.

So rannte sie nach Hause und bewies den anderen Bewohnern, dass sie das Kind des Windes war, dass sie schnell sein konnte.

Und sie glaubten ihr und ließen sie ziehen - in die endlose Freiheit."

Ich sah noch einmal zu ihrem Bett, bevor ich mich von der Fensterbank abstieß und mir meinen Weg aus dem Zimmer bahnte.

Als ich die Tür schloss, vernahm ich ein leises Schluchzen.

Langsam lächelte ich.

So hatte ich auch reagiert, als Nana mir diese Geschichte erzählt hatte.

Ich war der Antwort ein kleines Stück näher gekommen, jetzt ließ ich die Macht der Gefühle den Rest machen.

Schnelligkeit war nicht immer die beste Lösung. 

In der Ruhe lag der Erfolg.

Jetzt lag es an Sarumi-chan, sie musste eine Entscheidung treffen.

Und ich würde warten, egal, wie lange sie dafür brauchte.


The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now