Ähnlichkeiten

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Eine weitere Patientin konnte ebenfalls entlassen werden. Es war ein junges Mädchen, dass mit einem starken Atemwegsinfekt vor ein paar Tagen eingewiesen worden war. Sie wirkte ebenso fröhlich wie Haru-kun, als sie Chishiya erblickte und dieser ihr die frohe Nachricht verkündete.

Dann lernte ich die älteren Patienten kennen, die in seiner Obhut lagen. Es war ein neunzehnjähriger Mann, der nach einem schweren Verkehrsunfall nun hier auf Station lag. Ich bemerkte die typischen Trauma-Anzeichen schon, als wir den Raum betraten.

Das Zucken bei lauten Geräuschen, das leichte Zittern, Angstschweiß und Unruhe.

Während sich die beiden Männer unterhielten, legte ich eine Akte auf meinem Ipad an. Ich würde höchstwahrscheinlich viel Zeit mit Asahi-san verbringen, um mit ihm über seine Ängste zu sprechen.

Ich wusste nicht, ob ich in der Lage war, seine Probleme lösen zu können, aber ich wollte es versuchen. Schließlich wusste ich, wie es sich anfühlte, vor etwas Angst zu haben. Ich wusste, wie weh es tat, nicht offen über manche Dinge sprechen zu können.

Als Chishiya und ich den Raum schließlich verließen, blickte er auf die Uhr. Es war schon fast eine Stunde vergangen.

"Jetzt haben wir noch eine Patientin, dann eine kurze Pause, wo ich Weiteres mit Obiki und Daiki bespreche. Dann stehen noch ein paar Untersuchungen an, die du aber nicht begleiten musst. Dir ist freigestellt, wie du weiter vorgehst", klärte er mich auf, "Ach ja, die nächste Patientin ist ein wenig...wild. Sie ist nun schon zwei Wochen hier, nachdem sie mangelernährt eingeliefert worden ist. Nur, damit du es weißt."

War das jetzt gut oder schlecht? Was wollte er mir damit sagen?!

Doch nachfragen konnte ich nicht mehr, da er eine neue Tür aufmachte. Dort lag eine Teenagerin.

Es war erneut ein Einzelzimmer, weshalb der Raum ein wenig leer wirkte.

Wenn ich ehrlich war, hatte ich die Patientin erst überhaupt nicht gesehen, da sie unter zahlreichen Decken vergraben lag. Erst, als Chishiya ein wenig an den Stoffen zupfte, kam der schwarze Haarschopf zum Vorschein.

Ich erschrak, als ich das emotionslose Gesicht sah. Ich entdeckte keinerlei Reaktion in ihren Augen, ihre Haut war blass und ihre Lippen brüchig.

Chishiya schien dies schon zu kennen, denn er wirkte noch immer gefasst.

"Hallo, Sarumi-san. Ich habe heute jemanden mitgebracht, die du vielleicht kennenlernen solltest", begrüßte er sie, während er die notwendigen Untersuchungen durchführte. Ich konnte beobachten, wie sich ihre Pupillen in meine Richtung drehten und mich dann ausgiebig musterten.

Sie schien psychisch anwesend zu sein, aber ich spürte, dass es hier noch ein tiefgehendes Problem gab.

Und da war noch etwas.

Dieses Verhalten kam mir bekannt vor. Ich konnte fühlen, was in ihr vorging.

Es sah meiner Jugend verdammt ähnlich.

Es erinnerte mich an mein sechzehntes Lebensjahr.

Auf einmal war mir ein wenig mulmig. Es tat weh, wenn ich zurückdachte. Wollte ich das überhaupt? War ich bereit, meiner eigenen Vergangenheit erneut ins Gesicht zu blicken?

"Raus", eine brüchige Stimme schallte leise durch den Raum und ich sah auf. Das Mädchen saß nun in ihrem Bett und blickte mich feindselig an. Ich glaubte, sogar ein wenig Angst in ihren Augen zu erkennen.

"Worauf wartest du, Bitch?! RAUS!", sie schrie nun fast und ich spürte, wie mich etwas im Gesicht traf - genau unter meinem linken Auge.

Nach dieser netten Begrüßung zögerte ich keine Sekunde mehr und hetzte aus dem Zimmer, wo ich für einen kurzen Moment verdattert stehenblieb.

Was war das denn gewesen? Hatte ich etwas falsch gemacht?

Hatte ich vielleicht-

Ich spürte, wie meine Nase auf einmal zu laufen schien.

Tropf.

Ein kleiner, roter Tropfen fiel auf den weißen Boden und erschrocken hielt ich mir die Hand unter die Nasenlöcher.

Sehr unpassend, Ayuna. Du beschädigst noch den schönen, weißen Boden... Aber mal ehrlich, wer kam auf die Idee, einen weißen Fußboden in Krankenhäusern zu verlegen?

Hektisch sah ich mich um und entdeckte das Zeichen für ein WC, wohin ich schnell eilte. Zum Glück befand sich keiner im Waschraum.

Ich drückte mir Papiertücher unter die Nase und wusch meine blutige Hand unter dem kalten Wasser ab.

Ich hatte Glück, dass kein Tropfen auf meine Kleidung gekommen war!

Ich blickte in den Spiegel. Unter meinem linken Auge war eine kleine, rote Stelle, dort musste sie mich getroffen haben.

Aber mit was hatte sie geworfen?

Naja, war nun auch egal, ich konnte das Vergangene eh nicht mehr rückgängig machen.

Ich stöhnte auf, als ich sah, dass meine Nase noch immer blutete. Schnell nahm ich ein neues Papiertuch und drückte es mir unter das Nasenloch, bevor ich nachdachte.

Es war eine seltsame Reaktion gewesen. Chishiya hatte mich noch nicht einmal richtig vorgestellt.

Ich war der Meinung, dass sie eine Vorahnung gehabt hatte, was für eine Person ich war und warum ich den jungen Arzt begleitet hatte.

Das Verhalten war seltsam.

Ich vermutete, dass sie eventuell schlechte Erfahrungen gesammelt hatte - das erklärte jedoch nicht, warum sie so ausrastete.

Das Quietschen der Tür riss mich zurück in die Realität. "Da bist du ja, Ayu, Chishiya hat schon nach dir gesu- Oh mein Gott, ist das Blut?!", Hinata quiekte auf, als sie das blutige Papiertuch sah. Ich musste schon fast lachen.

"Was ist passiert? Er hat nur erwähnt, dass dir eine Patientin etwas an den Kopf geworfen hatte! Dass er es wortwörtlich meinte, hätte ich nicht gedacht!", sie griff nach einem neuen Papiertuch und reichte es mir. Ich nahm es dankend an und wechselte die Tücher aus. Es blutete noch immer, aber nicht mehr ganz so stark.

"Wie lange geht das schon so?", wollte sie wissen und wirkte auf einmal professionell. Ich zuckte mit den Schultern.

"Fünf bis zehn Minuten? Ich habe keine Ahnung, ist aber nicht so schlimm", erwiderte ich abwinkend und versuchte, ihrem strengen Blick standzuhalten.

"Wir können zum Pausenraum, es blutet nicht mehr so doll. Komm", meinte ich schließlich, um der angespannten Situation zu entkommen, während ich ihr mit einer Hand die Tür aufhielt und wir gemeinsam den Mitarbeiterraum ansteuerten.

Auf dem Weg wischte ich schnell noch die roten Tropfen vom heiligen Fußboden weg, bevor wir auf Obiki und Chishiya trafen.

Obiki zog seine Augenbraue hoch, als er das Tuch sah, er stellte jedoch keine Fragen, da er Chishiya zuhören musste, der ihm gerade konkrete Anweisungen gab. Ich setzte mich auf einen Stuhl und griff nach meinem Ipad.

Schnell schrieb ich auf, was mir über die Teenagerin bekannt war. Ich hatte das Gefühl, dass jedes Detail wichtig war.

"Hayashi? Guck mich mal an", Chishiya lenkte meine Aufmerksamkeit zu sich und ich zuckte erschrocken zusammen, als er mir mit seiner Taschenlampe in die Augen leuchtete. Ich wollte mich schon beschweren, doch er zeigte mir den Daumen hoch.

"Keine Gehirnerschütterung", informierte er mich und ich verdrehte die Augen. Sehr lustig...

"Womit hat sie mich eigentlich abgeworfen?", wollte ich wissen und er begann zu grinsen.

"Mit einem Plastikbecher."

Ich hatte das Gefühl, dass sein Grinsen noch viel breiter wurde, als er die Worte aussprach.

The Winners Take It All | ChishiyaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt