Süße Worte und ein Rätsel

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Ich konnte sehen, wie ihre Gehirne ratterten und wie ihre Blicke zwischen uns umherschwirrten.

Sie suchten nach einer Antwort. Und mit dieser hatten sie anscheinend am wenigsten gerechnet. Ich hatte gehofft, dass ich sie nicht treffen würde. Doch wer auch immer über unsere Schicksale bestimmte, meinte es überhaupt nicht gut mit mir.

Es schmerzte, wenn ich sie sah. Erinnerungen ließen mich in ein tiefes Chaos fallen, welches aus unterschiedlichen Emotionen bestand. Sie war es, die mir alles genommen hatte: Hayashi Ayumi. Meine Zwillingsschwester.

"Schwester?", Hatter fand als erstes seine Sprache wieder. Er trat einen Schritt vor und studierte uns genau, "Tatsächlich, die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen. Lasst mich raten... Zwillinge?" Ayumi nickte und grinste. Dieses Grinsen, es war so unecht wie ihre Wimpern. Sie schmierte ihm Honig ums Maul, so tat sie es immer. Und jeder fiel darauf hinein, glaubte ihr aufs Wort. Hatter lachte.

"Na sowas! Es ist selten, dass man hier im Borderland ein so hübsches Geschwisterpaar entdeckt!", er rieb sich die Hände, "Das ist großartig." Mir gefiel es nicht, wie er ihren Körper musterte. Naja, eigentlich wunderte es mich nicht wirklich, aber trotzdem fühlte ich mich unwohl dabei. Sie klimperte weiterhin mit ihren Augen, während ich einfach nur meinen Blick abwandte.

Sie war nicht froh, dass ich hier war und ich war auch nicht froh, dass sie hier war.

Endlich einmal etwas, womit wir uns einig waren. Ich wollte hier trotzdem weg, so weit flüchten, wie es nur ging. Also erhob ich mich vom Stuhl, ging an meiner "Schwester" vorbei zur Tür und signalisierte so, dass ich bereit war, diesen Raum endgültig zu verlassen. Hatter bemerkte meine Geste und schien kurz perplex. Anscheinend hatte er eine andere Reaktion erwartet. Klar, normale Geschwister wären sich sofort in die Arme gefallen, aber wir waren nicht normal. Unsere Beziehung war nicht so, wie es bei anderen war.

Es mochte für einige unverständlich sein, aber so funktionierte es halt in unserer Familie... Die Hayashi - Familie. Vielleicht auch eine Familie, zu welcher ich nie wirklich zugehören würde.

"Äh, ja. Chishiya? Wärst du so freundlich, Hayashi-chan 2 in ihr Zimmer zu bringen?", er hielt inne, winkte dann einen Laufburschen zu sich, der ihm etwas gab, dann kam er auf mich zu, "Dein Armband. Dank deiner guten Karte hast du dir eine gute Startposition geangelt. Weiter so!" Er ließ das blaue Teil in meine Hand fallen.

49.

Das nannte er gut? Ich war nicht überzeugt. Und vor allem nicht glücklich. Meine Laune verschlechterte sich umso mehr, als der Hoodie Typ auf mich zukam. Er grinste mich wieder blöd an. Wie sehr ich dieses Lächeln verabscheute! Es fühlte sich an, als wäre ich ein Insekt, auf welches er hinabblickte. Man fühlte sich sofort unterlegen.

"Natürlich, Hutmacher", da war sie wieder, seine Stimme. Ich war irritiert, dass er auch so herablassend klang, als er mit der Nummer 1 redete. Also hielt er sich wirklich für etwas Besseres. Wie hatte ihn Hatter noch genannt? Chishire? Chishiya? Jedenfalls öffnete er die Tür und trat hinaus, bevor ich ihm zögerlich folgte. Als die Tür hinter uns wieder zufiel, atmete ich ein wenig erleichtert aus. Und trotzdem war ich angespannt. Es lag an ihm, er musterte mich wieder, als wäre ich ein Versuchsobjekt.

"Warum?", brach ich schließlich die Stille. Er zog die Augenbrauen hoch, sein Gesichtsausdruck veränderte sich jedoch nicht.

"Die Frage ist: warum nicht?", er drehte sich um und meine Wut begann wieder zu brodeln. Ich bemerkte erst gar nicht, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte. Doch als er sich räusperte, folgte ich ihm dann doch.

"Schulabschluss mit einem perfekten Schnitt, Stipendium von der Tokio Universität, Studium in Psychologie, Schwerpunkt Kriminalitätspsychologie", ratterte er herunter, als wir vor einem Fahrstuhl stehen blieben. Mir trat erneut der kalte Schweiß auf die Stirn. Woher wusste er all diese Informationen? Wieso... so gut war doch kein Mensch zu lesen! Warum kannte er diese privaten Sachen über mein Leben?

Er musterte mich erneut: "Ein Leben, entstanden aus der Lüge und dem Erfolg eines anderen." Er sprach in Rätseln. Ich verstand nicht, was er mir damit sagen wollte! Was... wieso ein Leben? Und warum der Erfolg eines anderen?

Die Fahrstuhltür öffnete sich und er trat ein. Stumm folgte ich ihm, er drückte die vier und die Türen schlossen sich erneut. Ich grübelte noch immer, während wir uns mit der Kabine in Bewegung setzten. Er schien mit mir zu spielen. Und darüber hinaus gefiel es ihm auch noch.

Wenn ich ehrlich war, konnte ich ihn nicht so wirklich verstehen. Er war ein Mysterium, seine Mimik und Gestik... Sie wirkten so... keine Ahnung, ich konnte es nicht beschreiben.

Die Fahrstuhltür öffnete sich und er trat auf den Flur. Er steuerte die rechte Seite an und ich folgte ihm erneut. Dann blieb er vor einer Tür stehen.

408.

Er deutete nur auf die Tür, nickte und zog dann wieder ab. Ich blickte ihm mit gemischten Gefühlen hinterher. Dann legte ich meine Hand auf die Türklinke und drückte sie hinunter. Als ich eintrat, stand ich in einem gepflegten Zimmer. Es war klein, aber fein. Außerdem hatte ich Aussicht auf den nächstliegenden echten Strand. Wenigstens etwas. Seufzend ließ ich mich auf das Bett fallen und starrte an die Decke.

"Mama! Schau mal!"

War die Lage schon immer so traurig gewesen? Hatte ich mir alles vielleicht rosiger vorgestellt, als es wirklich war?

"Sei leise, Ayuna. Siehst du nicht, dass es deiner Schwester schlecht geht? Du solltest dich für dein Benehmen schämen."

Ich legte meine Hand auf meine Stirn. Sie war kalt, mein Kopf warm. Ich musste lachen. Doch es war kein fröhliches Lachen. Nein, es war ein Verzweifeltes.

"Mama! Ich bin schon wieder Klassenbeste geworden!"

Wie sehr hatte ich versucht, all diese Erinnerungen wegzuschließen, die Momente einfach nur zu vergessen.

"Wie kannst du es wagen, mit deiner Note zu prahlen, wenn Ayumi schlechter abgeschnitten hat! Schäme dich, Kind!"

Nun musste ich mich erneut allem stellen. Hatte ich die Kraft? Nein. Gab es einen anderen Weg? Nein. Ich musste durch, denn Auswege gab es auf dieser Route nicht. Ich konnte das Beste daraus machen, wenn ich mich nicht auf dem Radar befand, ihr aus dem Weg ging und leise blieb. Und doch... Hatte ich ein ungutes Gefühl.

"Ein Leben, entstanden aus der Lüge und dem Erfolg eines anderen."

Was sollte es bloß bedeuten und warum hatte ich das Gefühl, dass diese Worte noch von großer Bedeutung sein würden?

Wieso... Wieso fühlte ich mich auf einmal wieder so klein und hilflos?

The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now