Vertrauen

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A/N: Trigger Warnung, es werden sensible Themen wie Misshandlung, Selbstverletzung und Co. angesprochen!

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Er drehte den Kopf zu mir, als ich die Wohnung betrat. Anscheinend hatte er darauf gewartet, dass ich zurückkam.

Komisch, dass kannte ich ja gar nicht von ihm...

Ich schmiss ihm eine Schachtel zu, die ich aus einem Supermarkt geplündert hatte.

Aus meinen Schlussfolgerungen wusste ich, dass er nicht so gerne süße Sachen aß, mit einer Ausnahme: Erdbeeren. Als ich im Supermarkt gestöbert hatte, fand ich Mikado Stäbchen mit Erdbeergeschmack.

Es war Risiko, ob er es mochte.

Im Augenwinkel nahm ich das kurze Glitzern in seinen Augen war, was mir die Zustimmung gab. Bingo, ich hatte Recht gehabt.

Schnell stellte ich die Tasche mit den restlichen Snacks neben die Couch und verschwand dann mit der neuen Kleidung im Bad, wo ich die Tür hinter mir schloss.

Ich wusste, dass es während den Spielen schnell warm wurde. Deswegen hatte ich mich für ein kurzärmliges Shirt und eine Shorts entschieden. Auch eine Jacke hatte ich mir neu mitgenommen, aber ich Band sie mir vorerst nur um meine Hüfte.

Als ich mich umzog, kontrollierte ich zum ersten Mal Agunis Werk. Ich musste sagen, dass die Nähte recht gut aussahen. Es hätte deutlich schlechter aussehen können, doch die Kruste hatte keine gelbe Farbe, was mich ein wenig erleichterte.

Ich konnte jetzt nur hoffen, dass der Schmerzpegel auch so blieb, dann war alles super.

Als ich das Bad verließ, war das Wohnzimmer bereits in ein wunderschönes, rötliches Licht getaucht.

Stimmt ja, der Sonnenuntergang...

Da ich Chishiya nirgends entdecken konnte, vermutete ich, dass er entweder spielen gegangen war oder sich draußen auf dem Balkon niedergelassen hatte.

Ich tapste zur Balkontür und spähte nach draußen. Siehe da - was hatte ich gesagt? Er saß tatsächlich draußen.

Er hatte es sich auf der Holzbank gemütlich gemacht und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Genau, wie er es auf dem Dach von Beach getan hatte.

Ich machte mich daran, uns etwas zum Abendbrot zu machen. Wir hatten zum Glück Wasser, als auch einen Campingkocher zur Verfügung, was mir das Kochen durchaus erleichterte. So zauberte ich Instantnudeln, die ziemlich gut rochen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als der würzige Geruch auf meine Nase traf.

Wie lange war es jetzt her, wo ich das letzte Mal ein warmes Essen in meinem Magen gehabt hatte?

Ich füllte die Mahlzeit gerecht in zwei Schüsseln und trug sie samt Stäbchen nach draußen. Ohne ein Wort stellte ich das Geschirr vor Chishiya auf den Tisch und ließ mich dann ebenfalls auf die Holzbank fallen, wo ich begann, die Nudeln in mich zu schlürfen.

Meine Mutter hätte gesagt, dass es nicht sehr Lady Like war. Es war mir aber sowas von egal, was sie dachte! Und trotzdem kam mir der Gedanke sofort in den Sinn.

Chishiya neben mir schmunzelte leicht, während auch er sein Abendbrot verdrückte.

"Du hast Ayumi getroffen, habe ich Recht?", fragte er plötzlich, als wir für eine Weile in eine angenehme Stille gefallen waren. Ich biss mir vor Schreck ein wenig auf die Zunge und fluchte los.

"Woher weißt du das denn jetzt schon wieder?", wollte ich wissen, während ich versuchte, das Brennen mit Wasser zu lindern.

"Ich hab euch aus dem Fenster gesehen", gestand er und ich sah ihn für einen Moment an. Er hatte genau in diesem Moment aus dem Fenster geguckt? Das konnte ich kaum glauben.

"Mmh", stieß ich also aus und er musterte mich prüfend.

"Du hast dich verändert, Ayuna", er holte Luft, "Und trotzdem erstarrst du jedes Mal, wenn du sie siehst. Ihr... hattet kein gutes Verhältnis, oder?"

Oh nein, das Gespräch driftete in eine Richtung ab, in welche ich eigentlich nicht gehen wollte.

Was dachte er wohl gerade? Warum wollte er auf einmal so viel über mich wissen, vorher hat er doch auch kaum gefragt!

"Was soll das werden, wenn es fertig ist, Chishiya?", fragte ich deshalb, meine Stimme klang gereizter als sonst. Ich hätte fluchen können, dass ich das Thema schon wieder so nah an mich heranließ, doch zu meiner Überraschung grinste er nicht, nein, er wirkte ernst.

"Hast du dir das angetan? Wegen ihr?", wollte er plötzlich wissen und seine Hand griff nach meinem linken Arm. Erschrocken zog ich die Luft ein, als er über die Narben strich, die zurückgeblieben sind.

Ein Denkmal.

Es würde für immer bleiben.

Es war eine Erinnerung an eine Zeit, in welcher ich keine Hoffnung gehabt hatte.

Verdammt, ich hatte vergessen, dass er so aufmerksam war, dass er Dinge so gut kombinieren konnte.

Bestimmt hatte er die Narben auch schon im Beach gesehen, mich aber nie darauf angesprochen.

Beschämt senkte ich den Kopf, während seine Finger ein Feuerwerk in meinem Körper auslösten. Jede sanfte Berührung an meinem Arm ließ mich fast erschaudern.

Auf einmal hatte ich den Drang, ihm alles zu erzählen. Ich wollte ihm anvertrauen, was mir widerfahren war.

"Es gab eine Zeit in meinem Leben, wo die Welt gegen mich war", flüsterte ich und er rutschte ein wenig näher an mich heran, damit er verstehen konnte, was ich sagte. Ich wollte lauter sprechen, konnte es aber nicht. Mein Hals war auf einmal staubtrocken.

"Ich wurde als Zwilling geboren. Die Familie, in welcher ich aufgewachsen war, sah das als einen Fluch an. Meine Eltern... Wie soll ich es am besten beschreiben? Sie waren Mitglied in einer Sekte. Zwillinge waren dort nicht gerne gesehen. Und ich, die Zweitgeborene, geriet ins Lauffeuer. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber mein Leben war nicht einfach", ich schluckte.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Chishiya noch immer meinen Arm hielt.

Verdammt, was machte ich hier eigentlich gerade?

"Schlimm wurde es aber erst nach meinem sechzehnten Geburtstag. Da fand ich diesen besonderen Weg, mit meinen inneren Schmerzen umzugehen. Ich konnte gar nicht mehr damit aufhören. Wenn ich jetzt zurückdenke, dann schäme ich mich dafür", ich blickte zum Himmel, "Und dann starb auch noch die einzige Person, die meinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Das war der Tag gewesen, wo auch ich mein Leben beenden hatte wollen. Zu meinem Glück schaffte ich es nicht. Die Wunde war nicht tief genug gewesen. Man fand mich, ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Dort... hörte ich meine Eltern und wie sie sich darüber beschwerten, dass ich nicht gestorben war. Ab da hatte ich beschlossen, mich endlich von ihnen loszureißen. Ich wollte leben, ihnen zeigen, dass ich auch alleine eine Chance hatte. Ich arbeitete hart und schaffte es schließlich, alles in eigene Hand zu nehmen. Tja, meine Schwester war neidisch. Sie war nicht in der Lage gewesen, ebenfalls diesen Schritt zu gehen. Neid und Eifersucht hatten unsere Beziehung schon immer geprägt."

Er schwieg für eine ganze Weile. Ich hatte Angst, dass er mich auslachen würde. Doch nein, wieder einmal überraschte er mich.

"Danke für dein Vertrauen."

Erstaunt blickte ich zu ihm. Er sah mich an, ich konnte nicht herausfinden, was er gerade dachte. Doch was dann kam, damit hätte ich niemals gerechnet.

Er lächelte. Es war ein wunderschönes, ehrliches Lächeln.

"Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist."

The Winners Take It All | ChishiyaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt