Eine unreale Wirklichkeit

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"But I set fire to the rain, watched it pour as I touched your face..."

Schon seltsam, nicht?

Wie lange war es jetzt her? Vier Wochen? Vielleicht auch schon fünf?

Der Meteorit hatte viel Schaden angerichtet.

Ich hatte riesiges Glück gehabt, mehr konnte ich dazu nicht sagen. 

Es war eine Katastrophe der Katastrophen gewesen, die die Welt je gesehen hatte. Ein Meteoroid, der genau auf der bekanntesten Kreuzung Tokios eingeschlagen ist, zahlreiche Menschen tötete und andere schwer verletzte.

Ich war eine der Glücklichen, die nur eine schwere Verletzung davongetragen hatten.

Meine linke Seite und mein Bein waren auf Stahlträgern aufgespießt worden. Ich hatte zwischen den Trümmern meines eigenen Wohnhauses gelegen, mein Herz hatte für genau eine Minute nicht geschlagen. 

Die Ersthelfer hatten mich jedoch beim Eintreffen reanimieren können.

Ich hatte mein Leben behalten - und wenn ich es mir genau überlegte, war ich froh darüber.

Jedoch ließ mich ein Gefühl nicht los. Es war diese Erinnerung, nach der ich einfach nicht greifen konnte. Es war, als würde mir etwas fehlen. Es störte mich, dass es mich nicht loslassen konnte.

Es war etwas passiert. Etwas, woran ich mich auf jeden Fall erinnern wollte, es erschien mir als wichtig.

Und dann war da noch etwas.

Ich hatte mich verändert.

Ich hatte über den Tod meiner Schwester getrauert, obwohl es mich vorher nicht interessiert hatte.

Doch viel komischer waren die Begegnungen mit anderen Menschen. Ich lief ständig fremden Menschen über den Weg, wo ich das Gefühl hatte, sie von irgendwoher zu kennen. Ein Augenkontakt reichte schon aus, um in mir ein Unbehagen auszulösen.

Es steckte mehr dahinter, auch wenn ich nicht wusste, was genau es war. 

Doch wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch nicht herausfinden. Ich hatte genug zu tun, da brauchte ich nicht noch eine Aufgabe.

Mein Handy piepte. Ich zog es aus der Tasche und blickte auf das Benachrichtigungsfeld. Es war eine Textnachricht von Kuina, meiner Zimmernachbarin aus dem Krankenhaus. Wir hatten uns gut verstanden, weshalb wir bei ihrer Entlassung Nummern ausgetauscht hatten.

Hey! Wie geht's dir so? Ich habe gehört, dass du endlich aus dem Krankenhaus raus bist!

Ja, man hat mich endlich gehen lassen.

Nice! Wir müssen uns bei Gelegenheit endlich treffen!

Jup! Da stehe ich dir bei. Ich habe allerdings die nächsten Tage keine Zeit :(

Lass mich raten, du versuchst den Stoff aufzuholen, den du in der Uni verpasst hast? Girl, du musst mal ne Pause einlegen, du bist schon seit knapp drei Wochen dabei!

I know, Mutti! Keine Sorge, ich bin fast fertig. Aber das meine ich nicht, ich habe ein Gespräch mit meinem Professor. Und auf Wohnungssuche bin ich auch noch :')

Hast du was verbrochen?!

Ich grinste leicht.

Nein, keine Sorge. Ich will nur etwas Besprechen. Wegen meinem Major. Ich werde doch in ein anderes Feld gehen.

Kuina schien zu tippen, die drei Punkte erschienen auf meinem Bildschirm.

Sag bloß nicht, dass du jetzt Marktwissenschaft oder so machen willst...

Wo denkst du hin? Natürlich! 

Ich grinste leicht, als ich die Nachricht abschickte, doch schnell begann ich wieder zu tippen.

Ne, Spaß. Ich will mein Fachgebiet nur ändern. Von Kriminalpsychologie auf medizinische Psychologie.

Damn! Dann sag einfach Bescheid, wenn du soweit bist!

Ich schickte ihr einen Daumen hoch, bevor ich das Handy wieder in meine Tasche steckte. Erst einmal musste ich sehen, dass ich eine neue, bezahlbare Behausung bekam. Ich war schon jetzt völlig abgenervt, dass ich wieder bei meinen Eltern eingezogen war. Genau das, was ich eigentlich nicht hatte machen wollen.

Außerdem verhielten sie sich so komisch, deswegen wollte ich so schnell es ging wieder die Biege machen. Aber jetzt...

Jetzt würde ich erst einmal zur Uni gehen, meinen Vorlesungen folgen und endlich wieder in den Alltag finden. Wer weiß, was die Zukunft noch für mich hielt.

Humpelnd machte ich mich wieder auf den Weg. Leider musste ich zu Fuß gehen, die Subway funktionierte noch nicht. Das Schienennetz war in diesem Teil der Stadt komplett lahmgelegt worden. 

Ehrlich gesagt hatte ich aber nichts dagegen, irgendwie bekam ich neuerdings immer ein flaues Gefühl, wenn ich in U-Bahnschächte hinabstieg.

Das große, moderne Gebäude kam in Sicht und in mir begann es zu Kribbeln. Es tat gut, endlich wieder zurück zu sein! 

Ich mischte mich unter den Studentenstrom und wurde praktisch zum Haupteingang geschoben, bis sich die Menge endlich aufteilte. Ich musste in den dritten Stock, wo sich das Medizin-Departement befand, sowie das der Psychologie. 

Die Treppen waren erst einmal eine Herausforderung und als ich oben ankam, war ich völlig aus der Puste. 

Doch ich kämpfte mich zu meinem Vorlesungssaal, wo ich mich dann auch schließlich auf meinen Platz fallen ließ. Ich saß fast neben der Tür.

Einige meiner Mitschüler sahen zu mir herüber. Es waren jedoch keine feindseligen Blicke, nein, sie waren warm. Einige lächelten mir zu. 

Es ließ mich vermuten, dass man sie über meine Situation informiert hatte.

Ich klappte meinen neuen Laptop auf und öffnete eine neues Dokument, um mitschreiben zu können.

Dann sah ich aus dem Raum hinaus, wo ich beobachten konnte, wie sämtliche Studenten vorbeiliefen. Dabei entdeckte ich eine große Gruppe, die lachend über den Flur ging, sie trugen weiße Kittel. Ich vermutete, dass heute die Medizinstudenten aus dem letzten Semester im Haus waren. Aus Erfahrung wusste ich, dass sie schon bald zu ihren Krankenhäusern aufbrechen würden.

Und dann sah ich eine Person, die ein seltsames, melancholisches Gefühl in mir auslöste.

Helle, längere Haare, zusammengebunden zu einem Zopf.

Ein Gesicht, was keinerlei Makel aufwies.

Und diese wunderschönen, schokoladenbraunen Augen, die sich gerade in meinen verloren.

Moment... Warte... WAS?!

Sofort riss ich meinen Blick nach unten und eine peinliche Röte stieg mir in die Wangen. Verdammt, er hatte mich dabei erwischt, wie ich ihn angestarrt hatte! Dabei kannte ich die Person doch gar nicht, oder?

Oder?!

Das seltsame Gefühl war wieder da, nur dieses Mal stärker als sonst. Ein fast schon flaues Gefühl machte sich in mir breit.

"Oi, Chishiya-san! Kommst du?", die Stimme war schon etwas weiter entfernt, sie war leiser als Normallautstärke. 

Eine raue, melodische Stimme antwortete: "Ja, ich komme."

Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Die Stimme machte etwas mit mir, was ich nicht nachvollziehen konnte.

"-san? Hayashi?", ich wurde aus meiner Starre gerissen, als mich meine Sitznachbarin plötzlich anstupste. Sie lächelte leicht, bevor sie mir einige Blätter in die Hand drückte. Es waren Notizen aus den letzten Stunden. Ich bedankte mich und schenkte ihr noch ein Lächeln, bevor ich meinen Blick wieder zur Tür schweifen ließ.

Doch der mysteriöse, junge Mann war fort.

Sein Name war Chishiya.

Warum kam mir der Name so bekannt vor?


The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now