Die dreiste Lüge

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Gegen Mittag klopft es an meiner Tür, doch ich bleibe liegen und starre auf mein Handy. Dann geht die Tür auf und irgendjemand tritt ein. „Hey Mira.", das ist Papa. Ich drehe mich so, dass ich ihn angucken kann. „Hey.", begrüße ich ihn. Er ist noch in Dienstkleidung und sieht echt kaputt aus. „Harte Schicht?", frage ich ihn, doch er schüttelt mit dem Kopf. „Nein, nur eine Auseinandersetzung mit den anderen gerade. Jonas war hier und hat gesagt, dass du dich betrinken wolltest? Und du hast Stress mit Alex?", fragt er mich und setzt sich zu mir. „Nein und ja. Ich wollte mich nicht betrinken, keine Ahnung woher Jonas das hat. Und mit Alex Stress, nicht wirklich. Es ist nur Funkstille gerade.", erkläre ich ihm, was los ist. „Mhm verstehe.", antwortet er, dann ist Ruhe. „Ich wollte dir auch eigentlich nur Bescheid geben, dass wir zusammen Kuchen essen wollen, da Hannah ja schwanger ist.", sagt er mir. „Wie bitte, was?", frage ich erschrocken. Sie ist schwanger? Deswegen hat Phil also den Kuchen gebacken. Hannah und Stephan sind ja enge Freunde von uns und wollten es sicher mit uns feiern. „Wusstest du das nicht?", fragt Papa mich verwirrt. Ich schüttle mit dem Kopf und springe aus meinem Bett. Immer noch renne ich in Jogginghose und Pulli rum, was meinem Vater nicht so gefällt. „Mira, ich bitte dich. Zieh dir wenigstens was vernünftiges an.", sagt er und deutet auf meinen Look. Augenrollend bediene ich mich an meinen Schrank, während er selber in sein Zimmer geht. Beim umziehen merke ich erstmal, wie die Wunden schon wieder weh tun. Hoffentlich entzündet sich das nicht, dann bin ich ganz schlecht dran.
Nachdem ich endlich eine Jeans und ein vernünftigen Pullover anhabe, spaziere ich die Treppen nach unten und finde die ganze WG und Hannah und Stephan wieder. Sie sitzen alle am Küchentisch und trinken bereits Kaffee. Als sie mich bemerken, verstummen die Gespräche kurz. „Hey kleine, komm her zu mir.", sagt Paula und deutet auf den freien Platz, neben ihr. Ohne zu antworten gehe ich dort hin und setze mich stumm auf den Stuhl. „Alles gute euch beiden.", sage ich freundlich zu Hannah und Stephan. „Dankeschön.", kommt synchron von beiden. Dann wird auch schon Kuchen aufgetan. Richtig Lust habe ich da ja nicht drauf, wenn ich ehrlich bin. Nach dem Essen bekomme ich meistens Bauchschmerzen, nach einer Zeit Übelkeit und Appetitlosigkeit und ab und zu übergebe ich mich auch. Dieses fette Stück Kuchen, welches vor mir liegt, lacht mich schon so teuflisch an, da es genau weiß, was es mit mir machen kann. Die anderen sind schon fleißig am Essen und damit nichts auffällt, schiebe ich mir ein paar Stücke in den Mund, schlucke sie jedoch nicht runter. Als Ablenkungsmanöver wähle ich „Hausaufgaben". Deswegen stehe ich plötzlich auf und renne nach oben. Dort spucke ich die Stücke aus meinem Mund in das Klo und gehe für ein paar Minuten in mein Zimmer. „Mira?", höre ich Papa rufen. „Alles gut, ich hab noch Hausaufgaben, die ich meiner Lehrerin schicken muss.", rufe ich und dann kommt nichts mehr von ihm.
Jedoch klopft es nach ein paar Minuten und Paula kommt in mein Zimmer. „Hey, alles gut?", frage ich sie verwirrt. Sie schließt die Tür hinter sich und setzt sich auf mein Bett. „Hör zu Mira. Ich muss mit dir reden.", fängt sie an. Oh wow, was kommt jetzt? „Ja okay? Worum geht's?", frage Ich zögerlich, da ich mir da immer noch keinen Reim drauf machen kann. „Mir oder auch uns ist etwas aufgefallen. Und zwar finden wir, dass du sehr stark abgenommen hast.", haut sie plötzlich raus. Ich beginne zu lachen. „Paula du bist echt witzig. Wie und warum soll ich denn Bitteschön abnehmen?", frage ich sie lachend, doch sie bleibt ruhig und verzieht keinen Mundwinkel. Klar, mir ist das selber auch schon aufgefallen, da ich überhaupt nichts mehr runterkriege. Ich esse zwar normal aber Stunden später bekomme ich Bauchschmerzen und es kommt alles wieder raus. Das letzte mal, dass ich was drin behalten habe, ist mehrere Tage her. „Brichst du wieder?", fragt sie plötzlich, sodass mein Lachen verstummt. „Paula stop! Das mache ich echt nicht. Ich weiß, wie euch das damals verletzt hat. Nochmal will ich euch sowas nicht antun.", antworte ich entschlossen. „Schön, woran liegt das dann? Alex hat deinen Körper letztes Mal gesehen und uns gesagt, dass man schon wieder deine Rippen sieht. Zeigst du mir das mal?", erklärt sie mir. Oh Mist, deswegen wirkte Alex so besorgt, als ich mich im Krankenhaus vor ihm umgezogen hat. Er hat meinen Körper gesehen und gedacht, dass ich mich wieder übergebe, um abzunehmen. Damit Paula aufhört mit ihren Spekulationen, ziehe ich mein Pullover hoch und zeige ihr meinen Oberkörper. Sofort legt sie erschrocken ihre Hände um meinen Brustkorb. „Mira.", haucht sie traurig. „Du bist so dünn.", fügt sie noch hinzu. Ich seufze einmal kräftig und lasse dann meinen Pullover runter. „Ich weiß aber nicht wieso.", antworte ich leicht genervt. Würde ich ihr sagen, was die Gründe wären, würde sie sofort Panik schieben, mich untersuchen wollen und darauf habe ich keine Lust. „Darf ich mal schauen, ob das eine körperliche Ursache hat?", fragt sie mich. Oh ne, das war das, was ich vermeiden wollte. „Paula, das ist nicht nötig.", antworte ich und stehe auf. „Wollen wir nun mal wieder runter? Wir haben schließlich etwas zu feiern.", sage ich und gehe zur Tür. Sie macht einen Stop an meinem Schreibtisch und geht dann an mir vorbei. „Dafür, dass du Hausaufgaben abschicken wolltest, sieht dein Schreibtisch sehr leer aus.", sagt sie und verschwindet dann. Oh man, ich bin echt blöd. Mein Schreibtisch sieht so aus, wie immer. Total leer. Super, jetzt macht sie sich erst recht Gedanken, wieso ich eben gelogen habe, weil ich hoch musste. Sie zählt bestimmt eins und eins zusammen und kommt auf den Entschluss, dass meine Essstörung wieder da ist.
Einigermaßen normal gehe ich nach unten und setze mich wieder zu den anderen an den Tisch. „Na, Hausaufgaben fertig?", fragt Papa mit vollem Mund. „Ja.", antworte ich und erhalte sofort einen besorgten Blick von Paula. Sie weiß genau, dass ich gerade so dreist bin und meinen Papa anlüge. „Super. Meine Tochter ist einfach die beste. Hat immer die Hausaufgaben, gute Noten und ist immer ehrlich.", sagt er stolz. Aua, das tut weh. Paulas Blick wandert immer wieder zu mir, der soviel sagen soll, wie „sag jetzt die Wahrheit Mira.", aber das kann ich nicht. Noch nicht.

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Man liest sich im nächsten Teil:)

Zwischen Himmel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt