Schlüsse ziehen (Teil I)

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Viertel vor drei. Zehn Minuten hatte ich noch.

Ich stopfte mir den letzten Bissen meines Burgers hinter die Kiemen und sah mit vollen Bäckchen zu meiner Mutter auf, lächelte sie an, weil ich wusste, dass sie meine falsche Freundlichkeit noch mehr verunsicherte als mein etwas gröberes Verhalten.

„'is lecker", nuschelte ich und spülte die Reste zwischen meinen Zähnen mit Organgensaft fort. Ich mochte es, wenn sie Fastfood zubereitete, dabei konnte sie nämlich nicht viel falsch machen. Da gehörte schon Talent dazu, den Geschmack zu ruinieren, wenn man einfach nur Gemüse und Fleisch aufeinanderstapelte.

„Danke." Sie wandte den Blick von mir ab und wischte die Anrichte sauber. „Gehst du noch wohin?"

„Jupp. Ein Schulfreund hat mich angeschrieben und gefragt, ob wir was zusammen unternehmen wollen."

„Mh." Sie fuhr mit dem Lappen immer wieder über die gleiche Stelle. Vermutlich merkte sie selbst gar nicht, wie nervös sie das aussehen ließ.

Ich stand auf, schnappte mir Teller und Glas und räumte beides in die Spülmaschine, bevor ich dicht neben ihr stehenblieb und sie möglichst unschuldig ansah. „Emma hat mich gefragt, ob wir einen Spieleabend machen können. Haben du und Papa heute Zeit?"

Ihr Gesicht war wie versteinert. „Weiß ich noch nicht. Ich muss morgen früh raus."

„Achso." Selbstverständlich zutiefst enttäuscht über ihre Absage ließ ich die Mundwinkel fallen. „Dann nicht, aber-" Meine Finger zuckten für einen flüchtigen Augenblick über ihren Handrücken, bevor ich sie selbst wieder zurückzog, so ruckartig, als hätte ich einen Stromschlag bekommen. Eine Geste, die ich bei Noah beobachtet hatte. Immer, wenn er mir eigentlich etwas hatte sagen wollen und es schließlich doch nicht über die Lippen gebracht hatte.

Wie aufs Stichwort huschten ihre Augen erneut zu mir.

Ich biss die Zähne zusammen, bevor ich ein gequältes Lächeln aufsetzte. „Nicht so wichtig. Bis später."

Sie folgte mir. Ich hörte ihre Schritte in meinem Rücken, als ich die Küche verließ und mir im Flur die Schuhe überzog, um schließlich unser Haus zu verlassen.

Hoffentlich hatte ich sie mit der Aktion verwirrt. Es würde ihr guttun, mal wieder ihre Attitüde mir gegenüber zu überdenken. Vielleicht müsste ich dann nicht mehr ständig ein solches Arschloch sein – obwohl es ja doch irgendwie Spaß machte. Die Zerrissenheit in ihren Gesichtszügen. Den schwindenden Hauch Zuneigung, den sie einfach nicht komplett loswurde. Die Angst. Die Abscheu.

Ich verwarf den Gedanken und schwang mich hinters Steuer. Dieses Mal wollte ich lieber überpünktlich als zu spät ankommen, wollte keine Sekunde von dem verpassen, was Marvin und Co. für Noah vorbereitet hatten. Und ich sehnte mich nach dem Moment, in dem diesem scheiß Freak klar wurde, dass er seinen drei Peinigern schutzlos ausgeliefert war. Kein Paul mehr, der ihm aus der Patsche half, und das alles hatte er bloß sich selbst zu verdanken.

„Alles seine eigene Schuld", murmelte ich und startete den Motor.

Es hätte nicht so weit kommen müssen, aber er wollte es ja nicht anders.


Marvin wartete bereits am Schultor auf mich. Er stand da, wie bestellt und nicht abgeholt, beide Hände in den Hosentaschen vergraben und mit einem verkniffenen Zug um die Lippenpartie herum.

Ich sah ihn fröhlich an. „Konntest es wohl kaum erwarten, mich wiederzusehen, was?"

„Davon träumst du wohl!", spuckte er aus und fuhr herum. „Und jetzt komm, bevor ich es mir anders überlege."

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now