Über chemische Reaktionen im Gehirn

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Meine Fingerknöchel waren offen. Es dauerte erstaunlich lange, bis ich es bemerkte, bis der Schmerz in meinem Gehirn ankam, und selbst dann – es kümmerte mich nicht. Ich hätte meine Hand aus Noahs Haar nehmen oder ihn ein Stück von der Wand wegziehen können, damit die raue Außenfassade nicht mehr länger über meine Haut schrappte, aber ich tat es nicht. Dafür fühlte es sich viel zu gut an, obwohl er so ein verdammt beschissener Küsser war. Er hatte überhaupt keine Technik, drückte seine Lippen vollkommen unrhythmisch gegen meine und passte sich so gar nicht meinen Bewegungen an, und doch-

Fuck." Ich lachte erstickt, schmeckte seinen Atem auf meiner Zunge. Apfelsaft.

Er öffnete flatternd seine Lider. Wo mein Blut sich im Süden sammelte, war ihm seines ins Gesicht geschossen, bis hoch in die Ohrenspitzen. „P-Paul ...?"

Seine Augen waren glasig, der Blick, der mir begegnete, unfokussiert, als hätte er Wein intus. Fehlten nur noch die roten Umrandungen und vielleicht ein paar geplatzte Äderchen zur Pupille hin.

„Du bist miserabel", murmelte ich und schnappte mit den Zähnen nach seiner Unterlippe. „Das war der schlechteste Kuss, den ich jemals hatte."

„Aber-"

„Halt's Maul." Ich presste unsere Münder ein weiteres Mal aufeinander. Vielleicht ein bisschen zu stürmisch, aber ich störte mich nicht daran, dass unsere Beißerchen kurz gegeneinander klackerten. Ich meine, bis jetzt war alles immer irgendwie chaotisch gewesen, warum dann nicht auch unser erster Kuss? Außerdem war es meinem Schwanz egal, wie unerfahren Noah war, der zuckte trotzdem vorfreudig in meiner Hose herum und würde am liebsten mit einem ganz bestimmten Loch kuscheln.

„Pwuhl!" Er drehte den Kopf zur Seite, atmete holprig aus. „W-warte."

„Worauf?" Ich wollte nicht aufhören, weil es nicht einfach nur Spaß machte. Genauso wenig wie es bloß Erregung war, die wellenartig durch meinen Körper schoss, da war noch ein Etwas, das ich nicht benennen konnte. Nicht das schlechte Etwas, kein Brodeln, eher ... Ruhe. Als hätte Noah mit einem Bolzenschneider ein paar Synapsen in meinem Oberstübchen getrennt und die Enden schlackerten jetzt lose dort oben herum, hatten einen Teil meines Denkens ausgeschaltet. Ich fühlte mich beinahe ausgeglichen, wie in meinem ersten Praxiseinsatz, als ich mir mit ein paar geliehenen Schlaftabletten eine Dröhnung verpasst hatte. Das hier war ähnlich.

„Auf ...", er löste seine Hände aus meinem Oberteil und fuhr sich übers Gesicht, „ich weiß nicht?"

Er wusste es nicht?

Ich schnaubte und tippte ihm auf die Lippen. „Tavor."

„W-was?"

„Deine Lippen", sagte ich, „sind Tavor. Und Lexotanil. Zolpidem." Mit der Fingerkuppe glitt ich tiefer, fuhr die Konturen seines Kieferknochens nach. „Citalopram. Sertralin. Eine Flasche Atosil. Oder", ich schmunzelte, als er unterdrückt aufkeuchte, kaum hatte ich seinen Kehlkopf erreicht, „eine Vorratspackung Baldriandragees. Such's dir aus."

„I-ich verstehe nicht ...?"

„Egal." Ich wanderte wieder höher und verkrallte mich in seinem Haar, zog seinen Kopf etwas in den Nacken. Er hatte so viel schönere Augen als Niels. „Ist nicht wichtig."

„Okay, dann, uhm, d-das waren jetzt drei Minuten, also ..."

„Aha?" Ich hörte nicht richtig hin, konzentrierte mich lieber auf die zartrosa Tünchung seiner Wangen. Die Tränen auf ihnen waren mittlerweile getrocknet und hatten als einzige Überbleibsel zwei feuchte Spuren hinterlassen, die im Licht des Mondes glitzerten.

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now