In meinem Abgrund

Null- und Alternativhypothese

Es war ein bisschen schwierig zu definieren, dieses Morgen kläre ich das. Rein theoretisch war es nämlich schon morgen, weil ich ja um zwei in der Frühe mit Noah geschrieben hatte. Und wenn ich das alles noch weiter aufschob, würde daraus nichts mehr werden. Ich meine, Schule hatte ich bis halb vier, danach musste ich ganz dringend Brot kaufen und Nutella und Putzlappen und so lebensnotwendiges Zeug und danach sollte ich eventuell mal das Geschirrspülbecken leeren. Außerdem musste ich im Internet nach Waschmaschinen gucken und bestimmt würden wir auch ein paar Hausaufgaben aufkriegen, die ich als pflichtbewusster Auszubildender natürlich machen müsste, und hier und da lagen auch noch einige halbleere Kisten herum, die darauf warteten, dass ich ihnen meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Das Problem mit Noah in einem solch vollgestopften Alltag in irgendeine Lücke zu quetschen, wäre schlicht unmöglich. Besser also, ich kümmerte mich jetzt schon darum. Je eher ich das geklärt hatte, desto schneller würde mein Kopf sich schließlich wieder beruhigen können. Vielleicht zumindest.

„Ich habe gar keine andere Wahl", murmelte ich und raffte mich wieder vom Boden auf. Mein Gesäß freute sich, das war während der letzten halben Stunde taub geworden.

Kaum halb auf die Beine gekommen, warf ich einen flüchtigen Blick auf die Uhrzeit. Kurz nach drei. Akzeptabel. Immerhin hatte Ronja sich doch so damit gebrüstet, an Insomnie zu leiden, da sollte sie nichts dagegen haben, wenn ich sie zu dieser späten Stunde nochmal behelligte.

KingPaulus: ich benötige Zugriff auf dein mobiles Endgerät

KingPaulus: pronto

KingPaulus: meine Autokorrektur hat Noah beleidigt und jetzt ist er bockig und hat mich wieder gesperrt

Ungeduldig schnickte ich gegen die Ränder meines Handys. Wenn sie nicht in spätestens vier Minuten antwortete, würde ich mich leider Gottes dazu genötigt fühlen, sie ein weiteres Mal aus dem Schlaf zu-

Räubertochter: das heißt ...

Räubertochter: mein ‚wie gehts' war keine so schlechte idee was? ô.o

Ich presste die Lippen zusammen.

KingPaulus: Handy

KingPaulus: jetzt

KingPaulus: sofort

Räubertochter: selbst, wenn ich wollte, gehts grade net

Kurz darauf lud eine Bilddatei von zwei grinsenden, weiblichen Köpfen, die bis zu den Hälsen zugedeckt waren. Einer davon gehörte ihr, den anderen kannte ich nicht. Ich musste gestehen, das war ein verdammt guter Grund, mir nicht helfen zu können. Auch wenn es mich störte, dass sie sich ausgerechnet heute durch die Gegend vögeln musste.

KingPaulus: ich denke, ich brauche mehr Beweise, damit ich dir glauben kann, dass es ein aktuelles Foto ist

Räubertochter: träum weiter :*

Räubertochter: kannst ihm morgen in der schule von meinem handy aus schreiben :3

Meh. Das war viel zu spät.

Ich schnalzte mit der Zunge und packte mein Smartphone wieder weg. Dann eben auf die altmodische Tour.

Und zwar die verdammt altmodische Tour.

Ich kniff die Augen zusammen und spielte mit dem Kieselstein zwischen meinen Fingern, versuchte, die Entfernung von mir hier unten im Vorgarten zu Noahs Fenster dort oben an der Hausfassade abzuschätzen. Normalerweise tat ich so etwas nicht, deswegen hatte ich keine Ahnung, wie viel Kraft ich in den Wurf setzen sollte. Nicht dass ich am Ende für einen Steinschlag im Glas in die Mangel genommen wurde. Das würde meine Chancen auf einen erfreulichen Ausgang der Sache nicht unbedingt erhöhen.