Leere Mägen und zwei Finger (Teil I)

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„Warte!"

„Wieso?"

„M-meine Sachen ..."

Ich blieb stehen, er stolperte gegen mich und prallte an mir ab.

„Aua ..."

„Bist du aber empfindlich." Ich packte ihn an den Schultern und stellte ihn wieder ordentlich hin. „Also hopp! Holen wir dein Zeug."

Er nickte schnell und zeigte hinter uns. „W-wir müssen da lang."

„Ich weiß. Ich habe dich dort vorgefunden."

„Äh, ja." Unsicher blickte er mich an, dann schob er seine Hand zurück in meine, ganz langsam. Niedlich, dass er immer noch nicht genau wusste, ob das okay für mich war – ich hatte es ihm ja erst um die fünfundzwanzig Male erlaubt.

„Brauchst nicht so schüchtern zu sein, Herzchen." Grinsend drückte ich seine Finger und lief neben ihm her zu seinem Klassenzimmer, ignorierte dabei die flüchtigen Blicke, die er mir immer öfter vermeintlich klammheimlich zuwarf.

Hundert Meter weiter waren wir schließlich am Zielpunkt angekommen.

Ich hielt ihm die Tür auf. „Nach dir."

„Uhm, danke." Er ging an mir vorbei zur Mitte des Raumes. Ich folgte ihm und sammelte unterwegs ein paar der losen Blätter ein.

„Ist was davon wichtig?", fragte ich und musterte die karierten Seiten. Auf manchen waren Schuhabdrücke zu erkennen.

„A-alles." Er schaufelte den Rest zu einem Haufen zusammen und stopfte alles in seinen Rucksack. „Das sind meine Biounterlagen. Die brauche ich f-fürs Abitur. Ist mein Leistungsfach."

„Mh." Ich reichte ihm noch meine Beute und nahm ihm daraufhin die Tasche ab, bevor ich ihn schmunzelnd in die Rippen stupste. „Falls du Nachhilfe brauchst, habe ich mir sagen lassen, dass ich sehr gut in Biologie bin."

Er lächelte schwach. „Danke, a-aber eigentlich verstehe ich alles."

Nur scheinbar meine Anspielungen nicht.

Ich verdrehte die Augen und zerrte ihn hinter mir her zum Ausgang, wechselte dabei mehr oder minder geschickt das Thema. „Übrigens denkt deine Tante, dass du nur hier warst, weil du dein Handy verloren hast."

„Du hast ihr nichts erzählt?"

„Nein. Ich habe ihr gesagt, dass wir gemeinsam gesucht und es in einem Mülleimer gefunden haben. Tu mir deswegen den Gefallen und lass mich nicht auffliegen, in Ordnung?"

Er nickte schnell. „W-würde ich nie machen."

„Dann ist ja gut."

Wir verließen das Gebäude, stiegen ins Auto und fuhren los. Die Fahrt über wirkte Noah wieder etwas normaler. Zumindest tat er sich nicht mehr selbst weh.

„Bleibst du noch ein bisschen?"

„Wenn Tantchen mich lässt."

„Ich r-rede mit ihr."

Ich nickte knapp, betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. „Mit wie vielen Kerlen aus der Schule stehst du jetzt eigentlich auf Kriegsfuß?"

„I-ich mit niemandem." Er rutschte in seinem Sitz tiefer. „Nur sie mit mir."

„Aha. Also, wie viele Typen haben ein Problem mit dir, mit denen du natürlich gar keines hast?"

Er schob die Unterlippe vor wie ein trotziges Kleinkind, wie Emma. Nur sah es bei ihm nicht ganz so furchtbar aus. „Bloß die drei. Dennis, Yannik und Marvin."

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now