Eine andere Art des Nachsitzens(Teil II)

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Von außen leuchteten nur noch in einzelnen Fenstern Lichter, ansonsten war der Komplex wie leergefegt. Die großen Eingangstüren standen aber noch offen, also fühlte ich mich eingeladen, das Gelände zu betreten.

Drinnen sah ich mich dann zunächst etwas dämlich um, weil ich keinen blassen Schimmer hatte, was Noahs Klassenraum war, oder zumindest auf welcher Etage es sich befand, bevor ich loswanderte, planlos, während ich durchgehend Noahs Handy anklingelte. Zwar rechnete ich nicht damit, dass der brave Junge ausgerechnet in der Schule seinen Ton angeschaltet hatte, aber vielleicht wenigstens den Vibrationsalarm. Und so leise, wie es hier in den Gängen war, standen die Chancen gut, das dumpfe Surren trotzdem vernehmen zu können.

Nur hörte ich es im gesamten Erdgeschoss nicht. Weder im Flur, noch hinter den geschlossenen Türen der Klassenzimmer oder in den Toiletten. Ich schaute sogar bei den Mädchen vorbei. Wer wusste schon, was Noah in seiner Freizeit so trieb.

Aber selbst da – Fehlanzeige.

Eventuell befand er sich ja gar nicht mehr in der Schule. Oder er hatte sich in einem der anderen vier Stockwerke verkrümelt.

Mein Blick streifte die schier unendlichen Treppenstufen.

Was hatte ich mir da eigentlich selbst aufgehalst?

Seufzend stampfte ich zur ersten und quälte mich eine Etage höher.

Selbstredend hätte ich Ingrid auch einfach anrufen und ihr auftischen können, dass Noah sich nicht hier befände, ohne jedes Staubkörnchen vierfach untersucht zu haben. Andererseits fehlte mir noch meine tägliche Dosis Noah, womit ich einen Orgasmus meinte. Den verdiente ich mir nämlich nach gestern.

Und wer wusste es schon, vielleicht schaffte ich es ja heute, endlich, endlich zum Stich zu kom-

Brrr. Brrr. Brrr.

Ich hielt inne.

Es surrte irgendwo ganz in der Nähe. Blechern, als würde ein Handy auf der Kühlerhaube eines verrosteten Autos liegen.

Mit zusammengekniffenen Augen sah ich mich um, folgte dem Geräusch, aber es kam aus keinem der umliegenden Räume. Nein, es kam aus dem Mülleimer.

Perplex glotzte ich von oben in den Abfall hinein. Es leuchtete schwach im Inneren. Und, als ich hineingriff, hatte ich prompt Noahs Handy in meiner Hand.

Ich beendete den Anruf und starrte auf seinen Sperrbildschirm. Da war ich, grinsend auf der Mauer gegenüber der Notaufnahme, die sich vor meiner Krankenpflegeschule befand. Es war ein ausgeschnittenes Bild, ich sah noch eine Hand in der Nähe meines Oberschenkels, vermutlich Tinas.

Scheinbar hatte er nicht ganz alle Fotos von mir gelöscht. Aber dafür könnte ich ihn gleich noch schelten, erstmal sollte ich vielleicht herausfinden, wo mein Stalker sich aufhielt. In den Mülleimer passte er nämlich nicht hinein. Ganz knapp nicht. Wegen ein paar Zentimetern.

Ich steckte beide Mobiltelefone weg und hob den Blick. „Noah?"

Stille.

Vermutlich wäre es auch zu leicht, wenn er jetzt aus den Schatten auftauchen würde und wir nach Hause gehen könnten. Er machte es mir ja nur zu gerne schwer.

„Typisch." Ich schritt zur ersten Tür in unmittelbarer Nähe, rief erneut seinen Namen und klopfte an.

Nichts.

Ich rüttelte an der Klinke.

Abgeschlossen.

Okay.

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now