Prinzipien einer polnischen Tante

541 46 126
                                    


Nach zwei Stunden, die ich mit intensivem an die Decke Starren verbrachte, ließ sich mein Vater erneut blicken.

„Wegen vorhin", fing er an und kratzte sich wie gewöhnlich am Hinterkopf, „lädst du Noah für morgen nun zum Essen ein?"

Überrascht sah ich ihn an. „Soll ich?" Eigentlich hatte ich gedacht, er hätte das nur so dahingesagt, um sich selbst den guten, sorgenden Vater einzureden.

„Wenn es dir mit ihm ernst ist, wollen wir ihn natürlich kennenlernen." Er lächelte schwach. „Ich habe dir doch immer gesagt, dass du uns das Mädchen vorstellen sollst, was dir irgendwann den Kopf verdreht."

„Er ist ein Junge. Noah ist männlich", erinnerte ich ihn und zog die Beine in den Schneidersitz.

Er nickte sofort. „Ja, klar, ich wollte nur ... jedenfalls, ich habe mit deiner Mutter gesprochen und sie würde zum Mittag einfach eine Portion mehr mitkochen."

Wenn man jemanden mochte, wollte man solche Dinge wohl. Klang auch nicht schlecht, einen weiteren Tag mit ihm zu verbringen. Ich hatte noch offene Fragen, die beantwortet werden wollten.

„Gut, ich frage ihn."

„Freut mich." Papa entspannte sich sichtlich. „Brauchst du das Haustelefon?"

„Wozu?"

„Zum Anrufen? Dein Handy ist doch kaputt." Er warf mir einen fragenden Blick zu, ich hämmerte mental die Stirn gegen den Bettpfosten.

„Ich kenne seine Nummer nicht aus dem Stehgreif. Und auf meine Kontakte kann ich jetzt auch nicht zugreifen."

„Dann", er zog das Wort lang, überlegte kurz. „Du weißt, wo er wohnt, oder? Notfalls kannst du ja vorbeifahren."

Keine Lust.

„Ist auch eine schöne Ausrede, warum du ihn unbedingt wiedersehen musst, was?" Er zwinkerte, ich verdrehte innerlich die Augen.

Dachte er, ich wäre wie diese verknallten Teenies in amerikanischen Fernsehsendungen, die drei Jahre brauchten, um sich voneinander zu verabschieden, nur damit sie sich gefühlt vier Sekunden später wieder in die Arme fallen konnten?

„Stimmt." Trotzdem quälte ich mich aus dem Bett und lief an ihm vorbei zur Treppe, weil ich ihm seine wunderschöne Fantasie über mein Liebesleben nicht zerstören wollte. „Bis später dann."


Es sollte nur ein kurzer Abstecher werden – das sagte ich mir zumindest, als ich meinen Arsch hinters Steuer schwang, aber ich hatte die Rechnung ohne Noahs Tante gemacht.


„Guten Tag!" Ich lächelte freundlich und schlug die Autotür hinter mir zu. Vor Noahs Haus stand eine ältere Dame, dieselbe, die ich auf den Fotos im Internet gefunden hatten. Seine Tante.

Also wohnte er scheinbar mit seinen Verwandten.

„Ach, hallo!" Sie winkte mir mit einer kleinen Schaufel in der Hand. Ihre Unterarme waren voller Erde und ihre Wangen von der Sonne leicht gerötet. „Kann ich Ihnen helfen?"

„Ich suche Noah", erklärte ich höflich und ging langsam auf sie zu. „Ich bin ein Freund von ihm."

„Ein Freund?" Sie runzelte die Stirn, kam schwerfällig auf die Beine. Das würde ihr leichter fallen, würde sie etwas abnehmen. So wie Tina.

„Richtig." Ich blieb vor ihr stehen und bemerkte etwas verspätet, dass sie mich musterte, als hätte ich etwas verbrochen. Leicht irritiert hob ich beide Brauen. „Ist er denn Zuhause?"

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now