Wohnungsbesichtigung (Teil I)

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„S-sieht man, dass ich g-geweint habe?"

Machte er gerade schlechte Witze? Er hatte dreiundfünfzig Minuten durchgeheult. Seine Visage hatte Ähnlichkeit mit der eines aufgedunsenen Kugelfisches.

„Nur sehr", meinte ich und streckte meine Finger durch. Sie fühlten sich taub an und waren voller Kratzer.

„Ich ... h-habe ich dir wehgetan?"

„Als wäre ein Böller in meiner Hand losgegangen." Ich musterte ihn, nicht sicher, wie ich mit der Situation umgehen sollte. „Geht's dir jetzt ... anders?"

Noah ließ seinen Kopf vornüberfallen, wischte sich dabei hektisch über die Wangen. „J-ja. Das ... das hat gutgetan."

„Aha? Ich habe mir sagen lassen, dass man danach immer ziemlich ekelhafte Kopfschmerzen bekommt."

Er fasste sich an die Schläfen, hob den Blick wieder. „Ei-ein bisschen."

Danach wurde es erstmal erneut still zwischen uns, bevor er ein paar Augenblicke später schließlich ein tiefes Seufzen ausstieß. „P-Paul?"

„Hm?" Ich hatte am Handrücken tatsächlich richtige Wunden von seiner Vergewaltigung. Vier an der Zahl, sein kleiner Finger hatte als Einziger keinen Schaden angerichtet.

„K-können wir zu dir? Nur bis ... bis man nicht mehr sieht, dass ich geweint habe?"

Ein Trick.

Ich war mir zu fast hundert Prozent sicher, dass er damit irgendetwas bezwecken wollte. Ich meine, gerade hatte er noch wie ein Schlosshund geflennt und jetzt wollte er zu mir? Wo wir vollkommen allein und ungestört wären? Die Logik war gespickt mit Nadeln. Vor allem, weil es ja wohl intelligenter wäre, einfach hier sitzenzubleiben, bis seine Glupscher sich beruhigt hatten. Bei seinem Vorschlag müsste er in seinem momentanen Zustand quer an allen anderen Badegästen vorbei.

Vermutlich wollte er inspizieren, wie gut ich mich zurückhalten würde. Ob ich mich zurückhalten würde. Wenn ich an die Szene mit den Blumen dachte, da hatte er körperliche Nähe auch partout abgelehnt. Was meine Theorie noch zusätzlich unterstützte – Noah wollte mich testen. Und eventuell seine Entscheidung von meinem weiteren Verhalten abhängig machen.

Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn, seine zierliche Statur, die angezogenen Schultern und seine kleinen, schmalen Finger, die ich mir gerade sehr gut um meinen Schwanz herum vorstellen konnte. Zumindest, wenn er nicht wieder vorhatte, so unnachgiebig zuzupacken, wie er es gerade bei meiner armen Hand getan hatte. Ich wollte keinen vernarbten Penis haben.

Andererseits, war es vielleicht doch möglich, dass er gerade einfach selbst total durcheinander war und gar nichts im Schilde führte? Dann wären wir bei mir Zuhause zumindest schon einmal in der Nähe eines Bettes, falls Noah richtig getröstet werden wollte. Ein nicht zu verachtender Fakt, meiner Meinung nach. Außerdem hatte er gerade einen emotionalen Totalausfall gehabt, von dem er behauptete, er hätte ihm gutgetan, und der war durch simples Händchenhalten ausgelöst worden.

Was könnte ich dann erst bezwecken, wenn ich ihn ordentlich anfasste? Bestenfalls Haut an Haut?

Hm.

Ich wiegelte beide Alternativen ab, erstellte mental eine knappe Pro-Contra-Liste und zeichnete währenddessen die Einkerbungen auf meinem Handrücken nach.

Auf dem Rücken wären sie mir lieber.

„Können wir", meinte ich schließlich, den Blick wie mit Klebstoff auf sein Gesicht fixiert. Ich erhoffte mir eine Reaktion, irgendetwas, das mir mitteilte, in welche Richtung wir uns gerade bewegten, aber er nickte bloß, mit einer absolut nichtssagenden Mimik. Keine Chance, auch nur die unbedeutendste Kleinigkeit herauszulesen.

In meinem AbgrundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt