Wohnungsbesichtigung (Teil II)

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Es dauerte nicht lange, bis sie mir öffnete. „Hey!" Sie grinste mich an. „Hast du Langweile?"

„Ganz im Gegenteil." Ich schob mich einfach an ihr vorbei ins Innere, tat sie schließlich auch öfters. „Aber ich habe keine Milch mehr."

„Milch? Backst du gerade?"

„Nein." Ich stakste in ihre Küche und durchsuchte den Kühlschrank, bis ich im obersten Fach eine ungeöffnete Packung fand. Die gehörte mir. „Ich kann überhaupt nicht backen."

„Und warum klaust du dann meine Milch, statt dir selbst welche zu kaufen, wenn es nicht dringend ist?" Sie versperrte mir den Weg, stellte sich wie ein Seestern in den Türrahmen, damit ich nicht an ihr vorbeikonnte.

Ich seufzte resigniert. „Es ist dringend. Noah ist bei mir und heult sich die Seele aus dem Leib und Milch beruhigt ihn. Ergo brauche ich Milch und habe keine Zeit, jetzt extra zum nächsten Supermarkt zu latschen und welche zu besorgen."

„Er weint?" Sie ließ die Arme sinken, zog die Brauen zusammen. „Habt ihr euch gestritten?"

Ich sah hinter sie den Flur entlang.

Nicht dass er meine Abwesenheit nutzte, um sich durch meine Habseligkeiten zu wühlen. Ich meine, er musste gehört haben, dass ich die Wohnung verlassen hatte, und sich daher in Sicherheit wiegen.

„Ne", meinte ich. „Er erzählt mir gerade etwas über seine Magersucht."

„Äh, okay?" Sie schüttelte den Kopf, machte Platz. „Ich frage dich einfach später. Geh erstmal deinen Schatz trösten."

Warum immer diese grässlichen Kosenamen?

„Ich tröste ihn ganz bestimmt nicht." Genervt drängte ich mich durch die entstandene Lücke. „Das letzte Mal, als ich ihn getröstet habe, hat er fast 'ne Stunde nonstop durch geweint."

„Ist doch gut."

Gut?" Ich blieb stehen, schon an ihrer Eingangstür angekommen, um ihr einen irritierten Blick zuzuwerfen. „Was bitte soll denn daran gut sein, wenn er in meiner Nähe miese Laune schiebt?"

„Weinen hat doch nichts mit schlechter Laune zu tun, sondern mit Vertrauen." Sie haute mich. „Ich für meinen Teil kann das nur, wenn ich mich wohlfühle."

„Du willst mir sagen, dass er vor mir heult, weil er mir vertraut?" Eigentlich wollte ich beleidigt sein, aber ihre nicht vorhandene Logik beanspruchte gerade meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Was weißt du eigentlich?" Sie wagte es, die Augen zu verdrehen. „Oder würdest du vor jemandem Gefühle zeigen, dem du nicht vertraust?"

Ich zögerte. Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Das war ein Bereich, in dem ich mich nicht auskannte. „Das heißt im Klartext?"

„Dass du deinen Arsch wieder zu ihm rüberschwingen, ihm seine Milch geben und ihn danach gefälligst so lange umarmen sollst, bis er von sich aus sagt, dass es ihm reicht. Und jetzt husch." Sie wedelte mit beiden Händen in meine Richtung, als würde sie eine Fliege verscheuchen wollen.

Ich kommentierte es mit einer Grimasse. „Das letzte Mal, als ich ihm zu nahegekommen bin, hat er mir in die Eier getreten."

„Und damals hast du es bestimmt auch verdient." Sie zog die Tür auf. „Ab mit dir." Und lud mich im Hausflur ab wie einen Sack Müll.

Klasse Freundin, echt.

Dezent eingeschnappt wechselte ich also wieder zurück zu meiner Wohnung und von dort aus direkt in die Küche, um zwei Tassen mit Milch zu füllen und sie in die Mikrowelle zu stellen. Für fünfzig Sekunden bei tausend Watt, bevor ich mich erneut meinem Problem gegenüberfand.

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now