Auf der Suche (Teil II)

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Letztlich hatte ich mich doch noch für eine andere Möglichkeit entschieden, eine, auf die ich früher auch schon oft zurückgegriffen hatte, wenn das Brodeln und Ziehen in meiner Brust Überhand ergriffen hatten.

„Wieder das Gleiche bitte."

Der Barkeeper beäugte mich einen Moment lang misstrauisch, bevor er mein altes Glas nahm und mir einen neuen Gin Tonic mischte. Als es erneut vor mir landete, schwamm eine Gurke an der Oberfläche wie eine aufgedunsene Wasserleiche.

Wie wahrscheinlich war es, dass jemand Noah etwas angetan hatte?

Ich wischte mir übers Gesicht. Es nützte nicht viel, wenn ich mich betrank, die schlechten Gedanken aber trotzdem nicht loswurde. Ich wollte nicht darüber sinnieren, in welcher Verfassung ich den Jungen finden könnte oder was er angestellt haben mochte, um einfach komplett von der Bildfläche zu verschwinden. Wer ihm vielleicht begegnet war und ihn-

Fuck." Die Polizei wäre die richtige Entscheidung gewesen. Ich hätte einfach hingehen und eine Anzeige aufgeben sollen. Was wäre schon dabei? Dann ging der Typ mit der kilometerlangen Liste an bestätigten Persönlichkeitsstörungen eben zu den lieben Herren Beamten und meldete seinen Freund als vermisst, nachdem sie sich gestritten hatten. Mit einer Angestellten, die das Gefühl hatte, Noah vor ihm beschützen zu müssen, als Zeugin.

Meine Finger zitterten, als ich nach dem Glas griff. Das Eis darin schlug klirrend an die Ränder. Flüssigkeit lief mir über den Handrücken.

Ich stellte es wieder ab und wischte die nassen Stellen an meiner Jeans trocken.

Meine Sorgen waren völlig unbegründet und ich wusste das. Niemand würde mich beschuldigen, wenn wer abhandenkam, nur weil ich rein zufällig ein paar unglückliche Diagnosen mit mir herumschleppte. Und mit vierzehn eventuell zu leichter Körperverletzung verurteilt worden war – wobei das nicht zählte, weil solche Eintragungen in der Regel nach fünf Jahren aus dem Register gelöscht wurden. Ansonsten hätte ich wegen meines erweiterten Führungszeugnisses die Ausbildung zum Krankenpfleger vergessen können. Und die paar Male, die ich danach handgreiflich geworden war, hatte meine Mutter immer erfolgreich außergerichtlich klären können.

Gute Güte, wieso benahm ich mich wie ein verdammter Schwerverbrecher, obwohl ich rein gar nichts angestellt hatte?

Ich umschloss mein Getränk mit allen zehn Fingern und ignorierte dieses Mal ihr sanftes Beben, während ich den Inhalt in mich kippte.

Genug.

Mir war klar, dass mir keine Ruhe vergönnt war, bis ich endlich handelte, weil ich die Verantwortung für Noahs Unversehrtheit nicht tragen wollte und sie mit einem einzigen Anruf bei der Polizei den Besitzer wechseln würde. Dann würde mich das alles nichts mehr angehen. Dann müsste ich nur noch warten, bis sie ihn mir gesund und munter zurückgaben.

„So machen wir's", nuschelte ich und bezahlte, bevor ich reichlich unsicher auf die Beine kam und aus dem Laden schwankte.


Die kühle Nachtluft draußen tat gut, nüchterte mich etwas aus. Ich nahm einen tiefen Atemzug von ihr, steckte mir zeitgleich den was-weiß-ich-wievielten Glimmstängel zwischen die Lippen und setzte mich langsam in Bewegung.

Die Gegend wirkte zwielichtig, überall standen kleine Grüppchen von Leuten, die nicht unbedingt wirkten, als wären sie unterwegs, um Party zu machen. Ich machte einen Bogen um sie, weil sie mir bestimmt nicht dabei helfen würden, das nächste Polizeirevier zu finden.

Ich wünschte, ich hätte vor meinem kleinen Abstecher nochmal mein Handy aufgeladen, dann könnte ich jetzt einfach Google Maps benutzen.

Selbst schuld.

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now