Fehlgeschlagener Selbstbetrug (Teil I)

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KingPaulus: wo seid ihr?

Ich hielt meinen Finger gegen die Klingel gedrückt, bestimmt zwei oder drei Minuten am Stück, aber keiner machte mir auf.

Was sollte das denn? Es war Sonntag. Sonntag aßen wir immer alle zusammen zu Mittag, keine Ausnahmen, außer ich war eben nicht aufgetaucht, weil ich die Nacht bei irgendeinem Mädchen verbracht hatte. Aber sonst?

Genervt entfernte ich mich von der Haustür und stampfte zum Küchenfenster. Es lag relativ niedrig, entsprechend leicht konnte man nach drinnen schauen. In gähnende Abwesenheit.

Wo, zum Henker, versteckten sie sich? Es war halb zwei. Zeit für die Raubtierfütterung.

KingPaulus: hallo?

KingPaulus: antwortest du mir vielleicht mal? oder hast du über die Woche schon vergessen dass du neben Emma noch ein Kind hast?

Ich blickte den letzten Satz an.

Klang er wehleidig? Als wäre ich traurig darüber, dass sie mich aus ihrem Kreis verbannen wollten? Als läge mir etwas daran, ihr Sohn zu sein?

So weit kommt's noch.

Ich löschte die Nachricht wieder. Fiona war eine Rabenmutter und ich brauchte keine Rabenmutter in meinem Leben. Allgemein benötigte ich keine weibliche Bezugsperson, auf die war eh kein Verlass. Meine biologische Erzeugerin hatte mich direkt nach meiner Geburt weggeworfen und meine Adoptiv-Erzeugerin eine Woche vor meinem Zweiundzwanzigsten. Ganz zu schweigen von meinem Vater, der war immer schon absolut nutzlos gewesen. Ein dämlicher Mitläufer, der nicht für sich selbst denken konnte. Viel lieber ließ er sich von seiner Ehefrau einreden, was er zu tun und zu lassen hatte.

Eltern waren einfach überbewertet. Noah war das perfekte Beispiel dafür – nur dass er mit seinem Auszug kostenlos eine neue Familie eingeheimst hatte, während ich komplett ohne dastand. Wäre angenehm, wenn man sich eine modellieren und dann im Internet bestellen könnte.

Baba_Jaga: Wir sind unterwegs. Ist etwas passiert?

Ich starrte die Nachricht an, fassungslos.

Ich meine, fragte sie mich das gerade wirklich? Denn, ja, es war ganz offensichtlich etwas passiert. Sie machten einen verschissenen Familienausflug ohne mich. Aber gut, ich wollte eh kein Teil einer solch missratenen Menschenkonstellation sein.

KingPaulus: fahrt UNvorsichtig

Sie kappte die Unterhaltung, ich ebenfalls.

Wenn sie mich nicht mehr wollten, würde ich mich mit Sicherheit nicht anbiedern. Das hatte ich nicht nötig. Ich würde mir einfach eine eigene Familie bauen. Ohne Kinder und unverheiratet, aber-

Ich schnitt eine Grimasse und packte mein Handy weg.

Ronja hatte doch auch Stress mit ihren Erziehungsberechtigten und kam allein hervorragend zurecht. Im Gegensatz zu Noah war sie ein optimales Beispiel dafür, dass man gar keine Blutsbande brauchte.

Ich würde es einfach genauso machen wie sie.


Lernen durch Beobachtung und Nachahmen.

„Du schon wieder." Ihre Worte klangen gemein, ihre Miene hingegen wirkte amüsiert. Das Fräulein sollte vielleicht mal daran arbeiten, beides zu einem passenden Bild zusammenzufügen. Kongruenz nannte man das. Den Mist bekamen wir seit dem ersten Ausbildungsjahr eingetrichtert und sie hatte es trotzdem nicht drauf.

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now