Alltag

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Psychisch erkrankten Menschen sah man ihre Einschränkungen nicht an. Die wussten sich gut zu verstecken. Wirklich psychische Wracks hingegen waren wie ein rotes Warndreieck mitten auf der Autobahn – aus den Augenwinkeln leuchteten sie und urplötzlich fuhr man mit hundertsechzig Sachen frontal in sie rein, verhedderte sich und blieb irgendwie stecken.

So viel dazu.

„Denkt daran, hört ihr? Selbst wenn jemand im ersten Moment aggressiv oder gemein wirkt, kann etwas gänzlich Anderes dahinterstecken. Deswegen ist es immer wichtig, dass wir was?" Frau Brenner hob den Zeigefinger und deutete auf eines der vielen Mädchen in der Bankreihe hinter mir. „Annalena?"

„Dass wir allen Patienten mit Empathie, Kongruenz und unbedingter Wertschätzung begegnen."

„Genau!" Frau Brenner fuhr herum und krakelte die Worte an die Tafel, als hätten wir sie heute nicht schon zum zehntausendsten Mal gehört.

„Wenn das so weitergeht", murmelte Tina neben mir und legte den Kopf in den Nacken, „zeige ich ihr gleich meine Kongruenz und schlafe demonstrativ ein."

Ich schmunzelte halb und baute meinen Kugelschreiber wieder zusammen. „Ich wecke dich, wenn sie in deine Richtung schaut."

„Vielen Dank." Sie hob den Daumen, ließ den Worten aber keine Taten folgen. Schade eigentlich, Frau Brenner wurde lustig, wenn sie schrie. Ihr wütendes Gesicht erinnerte mich entfernt an das eines übergewichtigen Ochsens. Und eine entfernte Tante von mir leitete den hiesigen Rinderzuchtverein, ich wusste also, wovon ich sprach.

„Okay. Das war's für heute. Ihr seid entlassen."

Endlich." Tina glitt aus ihrem Stuhl und zog sich ihr lockeres Sweatshirt über. Wofür es eigentlich schon zu warm draußen war.

„Lass uns gehen. Ich fahre dich."

Sie warf mir ein Lächeln zu, während ich unsere beiden Rucksäcke nahm und ihr voranging, um die Tür aufzuhalten.

„Wie überaus höflich", meinte sie frech und schritt an mir vorbei. Ihre Hüfte schwang ein wenig zu sehr, um natürlich zu sein.

„Immer doch." Ich beäugte ihre Kehrseite. Minimale Gewichtsreduktion, stand ihr gut.

„Und so ganz ohne Hintergedanken."

Wir liefen zu meinem alten Volkswagen. Sie blieb an der Beifahrerseite stehen und wartete, bis ich ihr öffnete. Das war dann doch zu selbstsicher für meinen Geschmack.

„Ganz ohne Hintergedanken", bestätigte ich sanft und kam ihrem Wunsch trotzdem nach. Sie stieg schnell ein und zog die Tür hinter sich zu, während ich unsere Taschen auf den Rücksitz verfrachtete. Im Seitenspiegel sah ich, dass ihre Wangen von einem leichten Rotschimmer durchzogen waren.

Grinsend folgte ich ihrem Beispiel und startete den Motor. „Zu dir?" Es war eine rein rhetorische Frage. Der Rock war kurz genug, um Absicht gewesen zu sein.

„Klar." Sie machte es sich bequem, extra entspannt, ein bisschen zu sehr. An den unkoordinierten Bewegungen ihrer Finger konnte ich ihr die Nervosität ablesen wie Sätze in einem aufgeschlagenen Buch.

„Dann zu dir." Ich parkte aus.

Es war fast Routine geworden, dass ich sie bei ihr daheim ablieferte. Das Haus lag auf dem Weg und manchmal, wenn ich mich von meiner besonders netten Seite gezeigt hatte, so wie heute, nahm sie mich auf einen kurzen Abstecher mit hinein.

„Wie lange bleibst du?" Sie friemelte an einer Masche ihrer dünnen Strumpfhose herum.

„Nicht lange. Montags hole ich Emma aus der Grundschule ab."

In meinem AbgrundWhere stories live. Discover now